(Prälat Heinrich Barlage angesichts der Banane vor dem Kölner Dom am 5. August 1998)
Was wäre die Kunst ohne die Kunst? Diese scheinbar absurde Frage soll den Blick lenken auf die Verknüpfung des einzelnen Kunstwerks mit der Summe der anderern bestehenden Kunstwerke, ihrem widersprechenden oder anregenden Charakter. Die Frage soll den Blick in die Geschichte öffnen, die Gedanken den diversen Bildwelten nachgehen lassen, die die Vergangenheit bereithält, soll veränderte Interpretationen offenlegen. Erst das so angereicherte, quasi aufgeladene Bild vom Bild/Kunstwerk läßt die Fülle der Erscheinung und ihr sinnliches Erleben auch zum geistigen Genuß werden.
Hätte Thomas Baumgärtel seine Bananenskulptur in voller Ausdehnung -sie hätte dann sicherlich eine Länge von ca. 30 m erreicht- ausgeführt, und hätte er diese für sich stehen/liegen lassen, wäre sie eine mindestens um 30 Jahre verspätete Pop-Skulptur gewesen. So aber hat er zum einen seinen unaufgeforderten Beitrag zum 750-jährigen Jubiläum der Grundsteinlegung des gotischen Kölner Domes unter das Motto gestellt: “Wir lieben die Hohe Kirche.“ Zum anderen, und dies ist viel entscheidender, hat er mit seiner Bananenskulptur eine so große Nähe zum Dom gesucht, daß Kathedrale und Banane trotz widersprüchlichster Bestimmung und emotionaler wie geistiger Besetzung als Einheit gesehen werden müssen, ja, die Banane scheint sich zur Hälfte geradezu durch die Tiefe des Mittelportals der Westfassade ins Mittelschiff zu schieben, von außen ins Innere zu dringen. Banane und Kirche gehen tatsächlich eine Synthese/Symbiose ein. Bleibt es jedoch nur beim grotesken Augenschmaus? Oder steckt sogar mehr dahinter? Es ist bekannt, daß Thomas Baumgärtel mit mehr als 3000 gesprühten Bananen Orte zeitgenössischen Kunstbetriebs ausgezeichnet hat. Über mehr als ein Jahrzehnt seiner Sprayaktionen haben die Banane zum internationalen Kunst-Signet schlechthin sich mausern lassen. Was liegt also näher, die Aktion als Forderung zu verstehen, daß zeitgenössische Kunst in die Kirche von heute eindringen soll. Tatsächlich war die Kirche jahrhundertelang (einziger) Auftraggeber und Hort von Kunst. Erst am Anfang des 20sten Jahrhunderts führte die gegenstandslose Kunst durch die Entrückung des Menschenbildes zum Bruch mit dieser Tradition. Obwohl es heute vereinzelte, erfolgreiche Bemühungen gibt, diese Kluft zu schließen -so auch besonders intensiv in Köln- können sie aufs Ganze gesehen, nur ein Anfang sein.
So weit, so gut, wäre da nicht noch die erotische Ausstrahlung dieser Südfrucht, die sie in unserer Zeit -wenn auch spaßig- durchaus zum Phallussymbol avancieren ließ, Ausdruck männlicher Potenz. Jede Zeit und Kultur haben offenbar ihre Symbole: Türme, Dolche usw.. Es gibt kaum eine heutige Werbung ohne erotischen Unterton, ob es sich um Sekt, Parfüm oder Autos handelt.
Und ein weiteres, was kaum jemand weiß: Der Hohe Dom zu Köln ist nicht nur St. Peter seit vorromanischer Zeit geweiht. Er besitzt noch ein zweites Patromonium , nämlich das der Maria, der unbefleckten Empfängnis. Im Zuge der marianischen Frömmigkeit der Gotik hat man den neuen Bau auch der Muttergottes geweiht. Am 8. Dezember eines jeden Jahres wird das Patronatsfest begangen. Der Mittelpfeiler des Hauptportals, dem Thomas Baumgärtel die Banane zugeornet hat, weist -der Skulpturenprogrammatik des 19. Jahrhunderts folgend- zudem die visionäre Darstellung Mariens auf der Mondsichel auf. So entsteht zweifelsfrei eine “schockierende“ Verbindung des Namens der Heiligen Jungfrau Maria mit dem banalen, “bananen“ Phallussymbol. “Quatsch“ als Kommentar für Baumgärtels Aktion erscheint vor diesem Gedanken wirklich als eine harmlose Bezeichnung.
Überwinden wir den ersten Schock und lassen uns ein auf eine Verknüpfung des Widersprüchlichsten mit Blick in die Vergangenheit, so werden wir fündig in der Geschichte der Kunst. Der Themenkreis “Maria mit dem Einhorn“ wird z.B. auf wunderbaren Tapisserien aus dem 15. Jahrhundert im Musée Cluny in Paris vorgeführt. Das sagenhafte Einhorn ist ein weißes Pferd mit einem ca. 30 cm langen gedrehten Horn auf seinem Kopf. (In Wirklichkeit ist das “Horn“ ein Zahn des Narwales, eines zu den Delphinen gehörenden Zahnwales.) Das Einhorn gilt nach einer indischen Legende als seltenes, scheues und geheimnisvolles Tier. Es liebt die Einsamkeit und kann nur mittels einer nackten Jungfrau aus seinen Jagdgründen gelockt und gefangen werden, denn es wird vom Geruch der Reinheit dieser Jungfrau angelockt. Springt das Tier in den Schoß der Unberührten, kann es von den Jägern erlegt werden. So heißt es denn auch bei den Kirchenvätern in der mittelalterlichen patristischen Literatur sogar “In uterum Virginis singulare deposuit omnipotentiae cornu“. (In den Schoß/Leib der Jungfrau legte er das einzigartige Horn der Allmacht.) Damit wird das Einhorn zum Symbol der Reinheit Mariens, ihrer unbefleckten Empfängnis bei aller offenbar doch sehr erotischen Auffassung. Im Laufe der Jahrhunderte wird das Einhorn zu einem changierenden Symbol.
Es kann z.B. auf Christus verweisen oder auf den Teufel. Im Manierismus verliert sich der mittelalterliche Symbolgehalt zusehends und Einhorn-Szenen mutieren zum Ausdruck eines Pansexualismus. Fresken in den päpstlichen Gemächern der Engelsburg in Rom zeigen ganz eindeutige Darstellungen lasziven Charakters. Auch in einer Zeichenstudie Leonardo da Vincis wird der religiöse Anspruch gänzlich aufgegeben, so daß eindeutig sodomistische Anklänge sichtbar werden, wie sie die hellenistische Kunst mit dem Motiv “Leda und der Schwan“ (Zeus) hervorgebracht hat.
Während das ausgehende Mittelalter und die Frührenaissance sich noch damit begnügten, antikes Formengut in christliche Formen/Figuren zu verwandeln -Philosophen wurden zu Aposteln, antike Helden zu Heiligen- mußte man in der Renaissance, wenn man sich nicht bei der Darstellung der antiken Götter selbst der Beschuldigung des Heidentums aussetzen wollte, die heidnischen Götter mit christlichem Gedankengut verknüpfen. Für die erste Form des Umgangs mit dem Weltlich-Sinnlichen sei auf eine Apollo-Federzeichnung Albrecht Dürers verwiesen, die den Adam des bekannten Kupferstiches von 1504 vorbereitet. Apollo wird zu Adam, Zeus zu Christus, Herkules zu Samson usw.. Von größerem Interesse ist hier allerdings die zweite Form. Als Beispiel bietet sich Sandro Botticellis bekannte “Geburt der Venus“ , um 1480, an. Nach antiker Marmorskulptur als Vorbild ist die himmlische Venus als Göttin der Liebe ganz schwerelos wie eine Erscheinung aufgefaßt. Das Bild entstand im Umkreis der neuplatonischen Philosophen, dessen Kopf Marsilio Ficino (1433-1499) war. Er glaubte, daß das Universum und somit auch das Leben des Menschen mit Gott durch einen unaufhörlichen geistigen Kreislauf verbunden sei. Alle Offenbarungen dieser Welt, wie z.B. der antiken oder christlichen, seien eins. Schönheit, Liebe und Glückseligkeit seien Phasen dieses Kreislaufs und damit letzlich dasselbe. - So war es durchaus möglich, die himmlische Venus Botticellis als Maria anzurufen. In der göttlichen (nackten) Schönheit erkannte man die göttliche Liebe. Die himmlische Venus ist jedoch eine Göttin des Geistes, während ihre Zwillingsschwester mit dem Beinamen Urania eine Göttin des Fleisches ist. Man könnte sagen, beide seien zwei Seiten einer Medaille. - Der Blick auf die Symbole in Malerei und Dichtung, die Maria und Venus zugeordnet sind, zeigt in der (Turtel)-Taube, der Rose, der Muschel und dem Spiegel Übereinstimmung.
Venus und Maria, die beiden Göttinnen der Liebe, verbinden sich im Geiste; die irdische körperliche Liebe wird zum Ausdruck der himmlischen geistigen Liebe, ist erfahrbarer Abglanz der unendlichen göttlichen Liebe.
Gianlorenzo Berninis “Verzückung der Heiligen Theresa von Avila“ aus den Jahren 1645-52 in Rom verbindet in offenkundiger Weise die beiden Stufen miteinander. Mit offensichtlicher Lust steht ein Engel, der in anderem Zusammenhang als Amor aufzufassen wäre, mit seinem süßen Pfeil der Liebe vor der spanischen Mystikerin, die ganz entrückt und verzückt liegend sich einem sehr irdischen Genuß hingibt. Die Marmorgruppe scheint auf einer Wolke zu entschweben. Sie selbst beschreibt ihr visionäres Erlebnis: “Der Schmerz war so groß, daß ich laut aufstöhnte; doch zugleich empfand ich eine so unendliche Seligkeit, daß ich wünschte, der Schmerz höre niemals auf. Es war kein körperlicher, sondern ein seelischer Schmerz, wenn er auch bis zu einem gewissen Grad auf den Körper wirkte. Gott liebkoste auf das Zärtlichste meine Seele.“ Echte mystische Frömmigkeit führt hier zu einem Ausdruck höchsten sinnlichen Erlebens in weltlicher Schönheit. Welt und Gott scheinen in dieser Figurengruppe kein Widerspruch zu sein.
Zurück zur Banane und der Aktion von Thomas Baumgärtel. Durch den Blick in die Geschichte wird deutlich, daß der weltliche Eros in der religiösen Kunst in Zeiten als Bild- und Hilfskonstruktion parabelartig eine wichtige Rolle gespielt hat, die absolute göttliche Liebe faßbar zu machen. Die Verknüpfung scheinbar sich widersprechender Formen, das ästhetisch Abstruse, führte zur concordia discors, zur zwieträchtigen Eintracht. Mit der Banane im Hauptportal des Kölner Domes hat uns Thomas Baumgärtel ganz im manieristischen Sinne ein zeitgenössisches Bild für diese concordia discors gegeben.
Klaus Altmann, 1998