Die Verknüpfung von Pop- und Urban Art mit alten Meistern
in Thomas Baumgärtels Übersprühungen
Text im Wienand-Katalog „Thomas Baumgärtel 2008 - 2018"
In Thomas Baumgärtels Œuvre sticht, aus der Perspektive der Stilkunde betrachtet, ein Aspekt hervor: eine unverkennbare Verknüpfung von Pop- und Urban Art mit altmeisterlicher Kunst. Unter dem Pseudonym „Bananensprayer“ zählt er zu jener Vorhut von Urban-Art-Künstlern, welche die Verbindung zu den Errungenschaften früherer Generationen von Künstlern aufrechterhalten. Dennoch ist gerade diese Pop- und Urban Art mit altmeisterlicher Kunst verknüpfende Facette seines Schaffens in allgemeinen Untersuchungen zur jüngsten Kunstströmung kaum berücksichtigt, ebenso wenig wird ihre heutige Aktualität oder Banksys diesbezügliche Nachfolgerschaft thematisiert.
Thomas Baumgärtels eigene Sicht auf die Stilrichtung der Urban Art erfolgt meist durch das Prisma der Pop Art. Bereits seine Bananen-Urschablone aus dem Jahr 1986 (Abb. 1) weist Ähnlichkeiten mit dem Werk eines der Hauptprotagonisten der Pop Art auf: Andy Warhols Entwurf einer Banane für die Hülle der Schallplatte The Velvet Underground & Nico und den später daraus entstandenen Siebdruck.1
In der Folge wurde die Banane zu Thomas Baumgärtels Markenzeichen.2 Sie ist zugleich das Motiv, anhand dessen der Bananensprayer nahezu symbolträchtig mikrokosmisch die Wandlungsmöglichkeiten von Urban Art erprobte und sowohl verwandte Intentionen als auch wesentliche Unterschiede zu den Vorgängern der Pop Art beleuchtete. Unter seiner Hand entfaltete die Banane ihre Wirkung nicht nur als Schablonenwerk, sondern auch als Objekt für Installationen, manche davon in monumentaler Größe.3 Dieses nur scheinbar plakative, sehr wandelbare Motiv liefert in Anlehnung an die Pop Art zahlreiche Bedeutungsebenen aus der
1 Zu Warhols Entwurf für das Plattencover siehe Bourdon, David: Warhol, Köln 1989, S. 236. Auf der Grundlage dieses Entwurfs verwirklichte er wenig später den Siebdruck Banana (1966) auf einem Stück Plastik, wobei sich die gedruckte Bananenschale abziehen lässt und darunter eine pinke Frucht zum Vorschein kommt, siehe Feldman, Frayda/Schellmann, Jörg: Andy Warhol Prints. A Catalogue Raisonné 1962–1987, fourth edition revised and expanded by Frayda Feldman and Claudia Defendi, New York 2003, S. 61, Abb. II.10.
2 Die erste intensive Auseinandersetzung mit der Banane als Motiv seiner Kunst datiert ins Jahr 1983, als Thomas Baumgärtel während der Zivildienstzeit im katholischen Krankenhaus in Rheinberg eine Bananenschale „kreuzigte“, siehe hierzu „Aktionen“ auf der Internetseite <http://www.bananensprayer.de/pages/index.html> [14.2.2019].
3 Vgl. den beachtlichen Querschnitt durch das Œuvre des Bananensprayers in: Thomas Baumgärtel 1997–2007, Ausst.-Kat. Leopold-Hoesch-Museum, Düren, u. a. 2007–09, Heidelberg 2007.
Alltagskultur und der Welt des Konsums. Besonders in der Verbindung von Alltag und Kunst leistet der Bananensprayer seinen unverkennbaren Beitrag im Bereich der Urban Art.
Die Anfänge der Urban Art werden oft bei den Graffitis aus den 1960er- und 1970er-Jahren in den USA ausgemacht. Dementsprechend befinden sich die Begrifflichkeiten „Graffiti“4, „Street Art“ und „Urban Art“ nach wie vor im theoretischen Diskurs.5 Nachdem infolge einer großen Welle von Graffitis die Kunstrichtung aus den USA in ihrer hauptsächlich gestisch bis abstrakten, ambivalenten Haltung zwischen illegalen (unautorisierten) und legalen (beauftragten) Charakteristiken auf dem europäischen Kontinent angelangt war, galt es hierzulande, entweder die gestalterischen Methoden abzuwandeln oder aber die enormen inhärenten Möglichkeiten in Anlehnung an die Tradition der abendländischen Kunst auszuschöpfen und zu erweitern, bis hin zu einer Verschmelzung.
Am Anfang stand der künstlerische Protest unter dem Motto der Meinungsfreiheit. Während Harald Naegeli, bekannt als der „Sprayer von Zürich“, seit Ende der 1970er-Jahre mit seinen stark abstrahierten Strichmännchen und Figuren, aber auch Parolen und Botschaften den öffentlichen Raum als Plattform für seinen Protest gegen die Urbanisierung nutzte und sich noch den Intentionen und Ausdrucksweisen der US-amerikanischen Graffitis verpflichtet
4 Eine deutschsprachige Aufarbeitung des Begriffs „Graffiti“ im Kontext von Urban Art liefert Blanché, Ulrich: Something to s(pr)ay: Der Street Artivist Banksy. Eine kunstwissenschaftliche Untersuchung, Marburg 2010,
S. 17–24. Als Grundlage einer Ursprungsbedeutung wurden zumeist lesbare, gekratzte oder geschriebene Ich- Botschaften wie Sprüche, Parolen, Slogans und Eigennamen aufgefasst. Ein wichtiges Charakteristikum stellte dabei der Wirkungsraum dar, der – bis heute noch gültig – nicht nur die Wände der Straße für sich beanspruchte, sondern sich auch auf den Innenraum oder auf weitere, nicht zur Straße gehörende Außenbereiche beziehen konnte. Vgl. Blanché 2010, S. 18, sowie Blanché, Ulrich: Urban Art (Speech Opening Urban Art Museum MUCA Munich, 2016), abrufbar unter: <http://www.academia.edu/32007553/ Urban_Art_Speech_Opening_Urban_Art_Museum_MUCA_Munich_2016_> [29.1.2019]. Durch einen Bericht in der New York Times erlangte der Begriff breitere Aufmerksamkeit, vgl. Anonym: „,Taki 183‘ Spawns Pen Pals“, in: The New York Times, 21.7.1971, abrufbar unter: <https://www.nytimes.com/1971/07/21/archives/ taki-183-spawns-pen-pals.html> [29.1.2019].
5 Zur Begriffsdiskussion siehe u. a. Reinecke, Julia: Street-Art. Eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz, Bielefeld 2007, S. 13–17, und Blanché 2010 (wie Anm. 4), S. 13–45. Im deutschen wie im internationalen allgemeinen Sprachbewusstsein wird der Ausdruck „Urban Art“ zumeist in einer synonymen Bedeutung zu Graffiti und Street Art verwendet. In Fachkreisen gibt es hingegen unterschiedliche Ansätze, diese drei Begriffe zu differenzieren. Bis dato liegt zwar keine verbindende Definition vor, dennoch schlug jüngst Ulrich Blanché vor, „Urban Art“ als eine Art Dachbegriff für die genannten Termini anzuwenden, vgl. Blanché 2016 (wie Anm. 4). Die Argumente für eine solche Verwendung als Überbegriff sind vielfältig. Ein wesentliches ist, dass Urban Art sowohl die selbstautorisierte/illegale Prägung wie Street Art als auch die legale/auftragsbedingte Entstehung von Kunstwerken innerhalb dieser Strömung beinhaltet. Mehr noch: Das Urbane impliziert die Straße, aber auch Außen- wie Innenbereiche von Fabrik- oder Wohnruinen, den Raum unterhalb von Brücken sowie Unterführungen etc. Somit ist die Straße nur ein Teil des Urbanen. Zudem ist ein bevorzugter Gebrauch des Begriffs „Urban Art“ seitens der involvierten Künstler und Institutionen zu verzeichnen.
fühlte,6 geschah in der französischen Hauptstadt etwas anderes. Der Pariser Künstler Xavier Prou begann im Jahr 1981 seine Karriere und zog es augenscheinlich vor, den urbanen Entwicklungen mehr zu huldigen anstatt sich dagegen aufzulehnen.7
Bei der Suche nach der passenden Ausdrucksform griff Xavier Prou – im Gegensatz zu den schwer entzifferbaren Schriftzügen beim Graffiti-Writing – auf das Figurative zurück, um in Kommunikation mit Passanten in der großen Stadt zu treten.8 Zunächst war es die Gestalt einer Ratte als vorgeprägter Code im allgemeinen Gedächtnis, als Sinnbild des Urbanen, durch die die künstlerischen Intentionen auf der Straße an die Betrachter transportiert werden sollten. Unter dem Pseudonym „Blek le Rat“ machte er bereits in den 1980er-Jahren redlich Schule9 und arbeitet bis heute mit beherzigter Überzeugung: „Ich glaube nicht an den Maler, der behauptet, dieses oder jenes zu erfinden. So etwas gibt es nicht mehr. Das Wie macht den Unterschied.“10 Diesbezüglich und im Rückblick auf die eigene Findungsphase betonte Blek le Rat eine ebenso tiefgreifende Beeinflussung durch Andy Warhol wie der Bananensprayer.11 Um Einbindung in eine kunsthistorische Traditionslinie durch die Verwertung bereits erschaffener Sinnbilder zu erlangen, um auf diesem Weg Innovatives hervorzubringen und um die Gefahr der Rückverfolgbarkeit bei unautorisierten Aktionen auf der Straße zu minimieren, musste zunächst der Strahl der Sprühdose für die figurativen Motive gebändigt werden – nämlich mittels der jahrtausendealten Methode des Schablonierens. Was man in Frankreich
6 Vgl. Treeck, Bernhard van: Das große Graffiti-Lexikon, stark erweiterte Neuausgabe, Berlin 2001, S. 282–284 und S. 358–360. Harald Naegeli gilt bis heute als der erste Sprayer auf europäischem Boden im Sinne der US- amerikanischen Graffitis.
7 Vgl. Lalov, Valeri: „Blek le Rat signiert sich zum Pionier der Urban Art“, in: Karnatz, Sebastian/Kirchberger, Nico: Signatur und Selbstbild. Die Rolle des Künstlers vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Berlin 2019, S. 30– 39 (in Vorbereitung).
8 Allgemein zum Thema, wie Urban-Art-Künstler ihre Botschaft an den Betrachter transportieren, siehe Hinrichs, Susanne: Street Art: Von der Straße in die Galerie. Die Etablierung der Street Art am Beispiel der Arbeiten von Banksy, Saarbrücken 2015, S. 15; Seno, Ethel: „Abstrakte Botschaften“, in: Dies. (Hrsg.): Trespass. Die Geschichte der urbanen Kunst, Köln 2010, S. 256–279, hier: S. 258; Blanché 2010 (wie Anm. 4), S. 26; Krause, Daniela/Heinicke, Christian: Street Art. Die Stadt als Spielplatz, hrsg. vom Archiv der Jugendkulturen
e. V., Berlin 2006, S. 59. Erst später griffen Xavier Prou und seine Mitstreiter die Kombination von Bild und Text auf, um das Interesse der Passanten zu wecken, sich eingehender mit den Botschaften auseinanderzusetzen. Vgl. Seno 2010, S. 258, und Blanché 2010 (wie Anm. 4), S. 26/27.
9 Vgl. Ambroise-Rendu, Marc: „L’école de Blek le Rat. Les murs de Paris et l’art du pochoir“, in: Le Monde, 7.11.1986.
10 Zit. nach McGregor, Ken: Blek le Rat, Melbourne 2017, S. 62.
11 So gehörte zu den ersten Motiven, die Xavier Prou anfangs noch zusammen mit seinem Freund Gérard Dumas an Pariser Wände sprühte, Andy Warhols Banane, auf die Thomas Baumgärtel wenige Jahre später ebenfalls rekurrieren sollte: „Die Bananenschablone wurde vom Cover des Bananenalbums der Velvet Underground & Nico inspiriert“, zit. nach McGregor 2017 (wie Anm. 10), S. 69.
„Art du Pochoir“ oder kurz „Pochoir“12 genannt hat, ist im Englischen heute besser als „Stencil Art“ und im Deutschen als „Schablonengraffiti“ bekannt. Die Pochoir-Bewegung breitete sich kontinuierlich international aus, in Deutschland besonders seit dem Jahr 1986 durch die Kunst des Bananensprayers.
Viele der im heutigen Urban-Art-Milieu bekanntesten Pioniere gingen gerade anhand der Durchdringung von Kunst und Alltag im Sinne von Pop Art beziehungsweise Dada die Anbindung an die Errungenschaften früherer Generationen von Künstlern an. Neben der Ironisierung moderner und avantgardistischer Positionen durch postmoderne Zitatkunst griffen sie auch die Subversion von Kommunikationsstrukturen und den Zeichendiskurs der Situationisten auf.13 Der Urban Art wird zumeist vordergründig das „Heraustragen“ der Hochkunst aus dem White Cube auf die Straße hoch angerechnet, gleichsam als eine Umkehrung des Prinzips der Pop Art. Nachdem deren Vertreter das Kommerzielle salonfähig und zum Gegenstand der Hochkunst gemacht hatten, brachten nun die Urban-Art-Künstler die alten Meister und ihre Symbolik auf die Straße, machten sie somit wiederum nicht nur jedermann zugänglich, sondern stellten sie auf diese Weise auch in einen völlig neuen, in die Gegenwart gebundenen Kontext. Die neu aufgelegten Kunstwerke erreichen mehr Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und bekommen durch die neu entstandenen Kontexte zusätzliche Konnotationen und Bedeutungsebenen – eine gesellschaftliche Bereicherung durch erneuerte alte Meister.14
Die Verwandtschaft zur Pop Art erreicht nahezu programmatische Ausmaße vor der Folie, dass gerade diejenigen Pioniere der Kunstströmung Urban Art wie der Bananensprayer und Blek le Rat ebenso wie die Protagonisten der jüngeren Generation, allen voran Banksy, die einen engen Bezug zur vorausgehenden Kunstrichtung aufweisen, heute einen enormen Bekanntheitsgrad genießen. Der ambivalente Umgang mit Konsum spielt bei ihnen eine
12 Zur Pochoir-Thematik siehe insbesondere Metze-Prou, Sybille/Treeck, Bernhard van: Pochoir. Die Kunst des Schablonen-Graffiti, Berlin 2000; Manco, Tristan: Stencil Graffiti, London 2. Aufl. 2006 Mit „Stencil“ wird im Übrigen nicht nur die Schablone an sich bezeichnet, sondern auch das dadurch entstandene Bild auf unterschiedlichen Trägern wie Beton, Holz, Leinwand, Metall, Papier etc.
13 Vgl. Hinrichs 2015 (wie Anm. 8), S. 20/21.
14 Vgl. Lorenz, Annika: „,Verbieten ist verboten!‘ Kunsthistorische Perspektiven auf Street Art“, in: Klitzke, Katrin/Schmidt, Christian (Hrsg.): Street Art. Legenden zur Straße, Berlin 2009, S. 34–51, hier: S. 45. Auf S. 46 formuliert die Autorin die situationistische Praktik „le détournement“, die sich Urban-Art-Künstler aneignen, wie folgt: „Ihrer Idee zufolge werden Zeichen durch Dekontextualisierung und Neukombination ihrer gesellschaftlichen Bedeutung zwar belegt, jedoch eben jene Gesellschaft, die die ursprüngliche Bedeutung hervorgebracht hat, negiert und neu erfunden.“
Zentrale Rolle. Vor ihnen erkannten zwar der Sozialwissenschaftler Hugo Martinez15 und viele der Graffitikünstler der 1970er-Jahre, dass die Ausübung des Künstlerberufs von der Kommerzialisierung der eigenen Kunst abhängig ist, dennoch blieb der große Durchbruch der Vorgänger auf dem Kunstmarkt wegen der damaligen Positionierung ihrer Subkultur aus.16 Deshalb eigneten sich die Nachfolgegenerationen weitere Strategien der Vermarktung an.17 Dabei wurden stets neue Konsum- beziehungsweise Kommerzaspekte angeschnitten und weitergedacht.
Im Zuge dieser künstlerischen Praktiken mit dem Ziel, sich Methoden und Strategien anzueignen, sie zu aktualisieren beziehungsweise zu erweitern, gelangte Thomas Baumgärtel Ende der 1980er-Jahre an einen weiteren kritischen Punkt gegenüber der Konsumgesellschaft. Die Arbeit Kunst und Religion gibt als erste Zeugnis von einem neuen Aspekt, von einer neu eingeschlagenen Richtung in Thomas Baumgärtels Œuvre, die Mitte der 1990er- Jahre zur Werkgruppe der Übersprühungen führen sollte – gewissermaßen Modifizierungen von Gemälden aus Privatbeständen: „1994 habe ich erstmalig eine Reproduktion einer typischen Gebirgslandschaft, wie sie bayerische Haushalte zum Teil noch heute überm Sofa
15 Denn im Gegensatz zum allgemeinen Erinnerungsbild trug Martinez, der Gründer des Verbands United Graffiti Artists (UGA), mit seinem Sinn für Marketing im Jahr 1972 dazu bei, dass zugleich eine Legalisierung und Institutionalisierung des Phänomens Graffiti stattfanden. Vgl. Reinecke 2007 (wie Anm. 4), S. 26/27. Ziel von Martinez’ Sozialprojekt war es, meist jugendlichen Sprayern die Präsentation ihres Könnens in der Öffentlichkeit zu ermöglichen. Er bewegte sie dazu, ihre Bilder auf Leinwände und andere Träger zu sprühen. Mit den Werken organisierte er eine Wander-Verkaufsausstellung, die von 1973 bis 1975 tourte. Vgl. hierzu u. a. Urban Art! Biennale 2013, hrsg. von Meinrad Maria Grewenig, Ausst.-Kat. Völklinger Hütte, Heidelberg 2013 (= Edition Völklinger Hütte), S. 90. Der Erfolg auf dem Kunstmarkt war nicht von Dauer, da sich die Protagonisten selbst noch als der Subkultur angehörig betrachteten, ihnen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu niedrigeren Gesellschaftsschichten die künstlerische Ausbildung fehlte und sie es nicht schafften, ihre Arbeiten in neue (beispielsweise kunsthistorische) Kontexte zu bringen, um sie als Hochkunst zu etablieren, wie es späteren Generationen von Street- beziehungsweise Urban-Art-Künstlern gelingen sollte. Siehe hierzu Hinrichs 2015 (wie Anm. 8), S. 11–14, Lachmann, Richard: „Graffiti as Career and Ideology“, in: The American Journal of Sociology, Vol. 94, Mai 1989, S. 229–250, hier: S. 232, und besonders Reinecke 2007 (wie Anm. 4), S. 27–30.
16 Viele Urban-Art-Künstler wie Banksy, denen aufgrund der eigenen Imagebildung der Ruch der Illegalität zupasskommt, schaffen es, ihre Produktion für den Privatgebrauch vor einem großen Teil der breiten Öffentlichkeit auszublenden. Vgl. hierzu auch Blanché 2010 (wie Anm. 4), S. 17. Eine Besonderheit ist aber die Strategie der Imagebildung oder der Aufmerksamkeitsökonomie, die Urban-Art-Künstler wie Banksy verfolgen, um sich auch den Kunstmarkt als wichtigen Aspekt ihrer Produktion zu erschließen. Siehe zu diesem Thema Claß, Jörg-Steffen: Von der Subkultur zur Kulturindustrie. Aneignungsstrategien der Postmoderne, Stuttgart 2006, S. 11, sowie Rühse, Viola: Kritische Urban Art und ihre Vereinnahmung im heutigen Kunstbetrieb (unter besonderer Berücksichtigung von Banksy), schriftliche Fassung des Vortrags im Rahmen der Veranstaltungsreihe Let’s talk about money, honey am 7. Juni 2013 um 20 Uhr auf der Südbühne der Gessnerallee Zürich, abrufbar unter <https://wirsindmomo.wordpress.com/2013/04/08/viola-ruhse-kritische-urban-art-und-ihre- vereinnahmung-im-heutigen-kunstbetrieb/> [29.1.2019]. Die Autorin stellt am Beispiel Banksys dar, wie museale Ausstellungen und Institutionen in den Strategien miteinbezogen werden.
17 Siehe dazu u. a. Claß 2006 (wie Anm. 16), S. 11, sowie Hinrichs 2015 (wie Anm. 8), S. 2/3.
hängen haben, mit einer Banane übersprüht.“18 Dorothee Baer-Bogenschütz bezeichnete dieses Übersprühen von Leinwänden unbekannter Künstler als ein Erwecken zu neuem Leben, als eine Art lakonische Fruchtbarmachung der „alten Meister“ für neue Generationen von Betrachtern und als „Diversifizieren“.19
Ihrem Beispiel folgend sei an dieser Stelle der Blick auf das Mixed-Media-Werk mit dem Titel Mc Donald’s gerichtet, wofür der Bananensprayer 2013 eine Leinwand aus seinem Eigentum umfunktionierte. Die Umwandlung fand in der seit 1994 vermehrt praktizierten, bis heute noch andauernden Manier statt. Der Träger war also keine Blanko- Leinwand, sondern eine bereits bemalte. Der Urheber der ersten Bemalungsschicht blieb weitestgehend unbekannt, sozusagen ein alter Meister, der eigentlich keiner ist.20
Der Betrachter erkennt bei Mc Donald’s sofort eine Berglandschaft – ob real oder ideal sei dahingestellt –, die im Stil der Weißhöhungen alter Meister durch Thomas Baumgärtels Übersprühung um eine neue Dimension erweitert wurde. Im Vordergrund der Darstellung hat er den Buchstaben M angebracht, bestehend aus zwei stilisierten Bananen.
Dorothee Baer-Bogenschütz sieht im Vorgängerbild Mc Donald Ranch aus dem Jahr 2003 weit mehr als eine bloße Umdeutung oder „Anverwandlung“ des klassischen Motivs einer stimmungsvollen Gebirgslandschaft und deren Überführung ins Exotische durch die Bananen: „Die Banane befruchtet buchstäblich die Komposition.“21 Dies lässt sich auch im jüngeren Bild feststellen. Es ist gewissermaßen eine Metamorphose, die in beiden Kunstwerken vollzogen wird. Der Buchstabe M erinnert zugleich stark an die Initiale jener Fast-Food-Kette, deren Bekanntheitsgrad trotz mancher Verfemung scheinbar keinen Abbruch erlitten hat. Handelt es sich in beiden Fällen um ein Loblied, um eine Ironisierung oder vielmehr um eine humoristische Aktualisierung des Gebirgsbilds? Überträgt das Logo eine vordergründig ironische Note auf beide Landschaften oder aber auf die Kunstwerke vor der Übersprühung, gar auf den Konsumenten selbst? Somit erschließt sich eine Kontextualisierung in viele Richtungen.
18 Zit. nach Baer-Bogenschütz, Dorothee: „Übersprühungen“, in: Thomas Baumgärtel. Übersprühungen, Ausst.- Kat. Galerie Brunnhofer, Linz 2003, S. 2–5, hier: S. 3.
19 Ebd., S. 2. 20 Ebd., S. 2. 21 Ebd., S. 3.
Der Betrachter wird mit dem Satirischen und Antibürgerlichen unmittelbar konfrontiert. Die Anspielung auf die Initiale und der ironische Umgang, die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigen, besonders die Überführung in die Jetztzeit veranlassen zu einer längeren Auseinandersetzung. Vorbildfunktion mag Marcel Duchamps Readymade L.H.O.O.Q. (1919) zukommen, einer Reproduktion der Mona Lisa, von Duchamp mit Schnauzer und Bart ausstaffiert22, sowie Francis Picabias Replik23 darauf.24
Ein weiteres Vorbild der „bananigen“ Übersprühungen stellen die Werke des Situationisten Asger Jorn dar, der Ende der 1950er-Jahre Gemälde vom Flohmarkt in Teilen übermalte.25 Hieran knüpfte der Bananensprayer an, indem er die unautorisierte Anbringung von Kunstwerken seiner Urban-Art-Mitstreiter weiterdachte und seine eigene Tätigkeit zumindest teilweise von den öffentlichen Plätzen ins Private verlagerte. Erschufen viele der Urban-Art- Künstler ausgehend von ihren Motivfindungen „für die Straße“ bekanntlich auch Kunstwerke auf unterschiedlichen Trägern für den privaten Gebrauch, schien es genauso für Baumgärtel der nächste logische Schritt im Sinne der Urban Art zu sein, Kunstobjekte aus Privatbeständen zu übersprühen. Ebenjenes Ergebnis stellt die oben thematisierte Verknüpfung mit den Errungenschaften früherer Generationen von Künstlern dar, die Verbindung zwischen alten Meistern, Pop Art und Urban Art, wie sie im Werk des Bananensprayers zutage tritt.
In seinem Akt der Appropriation, so Dorothee Baer-Bogenschütz, überführt Thomas Baumgärtel das bereits Abgelegte, auf Flohmärkten oder in Trödelläden Erstandene in die herrschende Alltagskultur und macht es für den aktuellen Diskurs verfügbar.26 An diesem Knotenpunkt wird im Sinne der Dadaisten und Situationisten dekonstruiert und neu angeordnet,27 hier werden die performativen Strategien der Avantgardegruppen übernommen, der Ware vom Flohmarkt ein „Mehrwert“ verliehen, die postulierte Gleichzeitigkeit des
22 L.H.O.O.Q., 1919, bearbeitetes Readymade, Bleistift auf Kunstpostkarte, 19,7 × 12,4 cm, Privatsammlung, Paris; siehe insbesondere Daniels, Dieter: Duchamp und die anderen. Der Modellfall einer künstlerischen Wirkungsgeschichte in der Moderne, Köln 1992, S. 186.
23 Ebd. Picabia bezeichnete seine Reproduktion als „Dada-Bild von Marcel Duchamp“ und zeigte sie auf dem Titel seiner Zeitschrift 391 im März 1920. Da ihm Duchamps Readymade allerdings nicht vorlag, vergaß er, neben dem Schnauzer auch den Spitzbart auf seiner Replik hinzuzufügen.
24 Auf den möglichen Vorbildcharakter der beiden Werke hat Dorothee Baer-Bogenschütz bereits hingewiesen, siehe Baer-Bogenschütz 2003 (wie Anm. 18), S. 4.
25 Vgl. Klein, Naomi: No Logo. Taking Aim at the Brand Bullies, London 2001, S. 283. 26 Vgl. Baer-Bogenschütz 2003 (wie Anm. 18), S. 2.
27 Vgl. Lorenz 2009 (wie Anm. 14), S. 45/46.
Ungleichzeitigen betont und in die Jetztzeit eingebunden,28 gar an einen dezidiert urbanen Kontext angeknüpft. Es entstehen neue Zusammenhänge, neue Bilder, neue Sehweisen.29 Diese bildgestalterische Manier der Verknüpfung von Pop Art und Urban Art mit alten Meistern, die Thomas Baumgärtel seit Mitte der 1990er-Jahre praktiziert, inspirierte die jüngeren Generationen von Sprayern, darunter auch Banksy, zu vielen stilistisch ähnlichen Kunstwerken. Der heutige britische Superstar der Urban Art begann 2001 eine Werkgruppe, die unter mehreren Namen, besonders aber unter Crude Oils30 bekannt ist. 17 Jahre später, am 7. März 2018, hatte er damit schon so viel Aufmerksamkeit erlangt, dass sein Bild Bacchus at the Seaside (2009)31 für den sagenhaften Betrag von 669 000 Pfund Sterling versteigert wurde.
Als eine mögliche Erklärung dafür kann die Beobachtung von Ulrich Blanché herangezogen werden, dass bei Banksys Crude Oils im Gegensatz zu Duchamps und Jorns Werken formal wie inhaltlich oft eine humoristische Verbesserung in Form einer inhaltlichen Aktualisierung dieser Bilder, nicht deren rein ikonoklastische Ironisierung oder Zerstörung im Vordergrund stünde.32 Trifft dies zu, so richtet sich der Blick auf sein womöglich direktes Vorbild – den Bananensprayer. Dieses Beispiel dient als Beleg für die Aktualität und Beliebtheit des Baumgärtel’schen „bananigen“ Facettierens der alten Meister im Sinne von Pop- beziehungsweise Urban Art.
Die knappe Gegenüberstellung von Baumgärtels Umwandlungen mit denen von Duchamp, Picabia, Warhol, Jorn und Banksy haben zugleich die These von Baer-Bogenschütz bestätigt, dass „Bananisierung“ nicht gleichzusetzen ist mit Banalisierung.33 An Mc Donald’s wird umso deutlicher, dass es nicht nur handwerkliche Leistung und kreative Motivfindung sind,
28 Vgl. Baer-Bogenschütz 2003 (wie Anm. 18), S. 4/5. 29 Vgl. Hinrichs 2015 (wie Anm. 8), S. 20/21.
30 Vgl. Blanché, Ulrich: Konsumkunst. Kultur und Kommerz bei Banksy und Damien Hirst, Bielefeld 2012, besonders S. 109–112. Mit dem Begriff Crude Oils beschreibt Blanché die Werkgruppe, „bei der er [Banksy] zu bestehenden Reproduktionen (nicht nur) von Gemälden des 18. bis 20. Jahrhunderts zeitgenössische Dinge wie Gasmasken, Armeehubschrauber, Waffen oder Autowracks hinzufügt oder Ölgemälde abgewandelt komplett nachmalt.“ Mit dem Adjektiv „crude“ bezeichnet man, so Blanché, geschmacklose, grelle, simple, grobe, undurchdachte Ölgemälde (S. 109).
31 Siehe <http://www.sothebys.com/en/auctions/ecatalogue/2018/contemporary-art-evening-auction-l18020/lot. 54.html> [29.1.2019].
32 Vgl. Blanché 2012 (wie Anm. 30), S. 112.
33 Vgl. Baer-Bogenschütz 2003 (wie Anm. 18), S. 5.
die ein Werk zur Hochkunst erheben. Vielmehr macht die Anknüpfung an den Zeitgeist widerspiegelnde, aktuelle gesellschaftliche Entwicklungsprozesse den besonderen Reiz aus, sich mit der künstlerischen Intention intensiver auseinanderzusetzen. Die der Pop Art nahestehenden Urban-Art-Pioniere und -Protagonisten aus der jüngeren Generation lassen eine enorme Bandbreite an Positionen beziehungsweise Intentionen sogar innerhalb der einzelnen Strömung erkennen. Sie geben in ihrer individuellen Sprache pointiert, aber auch empathisch, die Phänomene unserer Zeit wieder und weisen in die Zukunft, üben soziale Kritik, brechen, bilden und erneuern Meinungen.
Valeri Lalov