Katalogtext von Stephan Mann

Auf der Suche nach der Ordnung im Chaos
Text im Wienand-Katalog „Thomas Baumgärtel 2008 - 2018"

Betritt man das großzügige Atelier von Thomas Baumgärtel im Kölner Norden, so ist man überwältigt. Man fühlt sich an eine Autolackiererei erinnert, zumal auch der Fußboden sowie die Bauästhetik der ganzen Anlage diese Assoziation hervorruft. Neben der schieren Größe ist man aber auf den zweiten Blick beeindruckt von der Ordnung im Chaos. Denn trotz des Vielerleis nimmt man rasch die sorgfältig nach Farben sortierten Spraydosen in den Blick, die in einem Regal an der Wand aufgereiht sind. Der gleichsam an die Wand geklappte, riesige Malkasten zeigt uns das vordringlichste Werkzeug des Künstlers: seine Palette, seine Pinsel.

Thomas Baumgärtel hat mit seiner Spraybanane vor mehr als 30 Jahren sein Markenzeichen gefunden. Seitdem ist die Spraydose sein Pinsel, ersetzt die mit hohem Druck aus der Flasche gepresste Farbe die Palette. Schnelligkeit und Präzision sind das Gebot der Stunde, wenn Baumgärtel mit Atemschutz in Aktion tritt.

So groß das Atelier auch sein mag, es sind die Details, die so vieles über den hier arbeitenden Künstler verraten. Eines ist offensichtlich: Baumgärtel ist Sammler. Nichts ist zu unbedeutend für ihn, als dass es nicht in einer Kiste oder in einem der großen Wandregale aufgehoben werden könnte. Und jedes der abgelegten Artefakte erzählt eine Geschichte oder befindet sich in Wartestellung, dem künstlerischen Einsatz entgegen.

Die Ordnung im Chaos beherrscht Thomas Baumgärtel. Und so greift er zielsicher einen verblassten gelben Postkarton aus einem alten Dreißigerjahre-Küchenschrank. Handschriftlich notiert, verweist die Bezeichnung „Russisch Brot“ auf seinen Inhalt. Hier bewahrt Baumgärtel Buchstaben auf, Buchstaben aus dem berühmten Gebäck-Abc, das schon viele Kindergenerationen begeistert hat. Die Buchstaben im Karton fanden einmal ihre Bestimmung in einem Sprayeinsatz und einer Werkgruppe, die Baumgärtel selbst als Spraygramme bezeichnet. Man hätte sie auch entsorgen können, haben doch die Buchstaben des Russisch Brots ihre vermeintlich letzte Verwendung gefunden. Jetzt aber schwärmt der Künstler, dass jeder Buchstabe durch das Besprühen selbst zum kleinen Kunstwerk geworden ist, und so landet der mit Farbe auf ewig konservierte Buchstabe in diesem Karton, bereit für einen neuen Einsatz und eine neue Geschichte.

Die Werkgruppe der Spraygramme, von der diese Buchstaben erzählen, ist charakteristisch für die Experimentierfreudigkeit des Künstlers. Es ist eine unbändige Kraft und Neugier für Neues, die ihn immer wieder antreiben. Die Spraydose ist bei all dem der rote Faden, oder sollte man besser sagen: der rote Pinsel.

Mit den Spraygrammen zitiert Baumgärtel die Kunstgeschichte. Er weiß um die Fotogramme, die sich als Experimente seit der Erfindung der Fotografie durch das neue Medium ziehen und mit Man Ray einen künstlerischen Höhepunkt erreichten. Baumgärtel variiert die alte Technik, indem er Alltagsgegenstände wohlausgewogen und komponiert auf einer Leinwand verteilt und sie anschließend mit Farbe aus der Spraydose besprüht. Wenn die besprühten Gegenstände schließlich von der Bildoberfläche genommen werden, verbleibt ein Abbild der Gesamtkomposition. Das Ergebnis ist einer belichteten Oberfläche ähnlich, es birgt Schärfen und Unschärfen in sich und bildet stets ein Negativ ab. Die Palette der Motive ist unerschöpflich – in Baumgärtels Œuvre finden sich Spraygramme mit Bügeln, Kämmen, Messern und Gabeln oder auch Zangen und Pinseln. Mit großer Freude zitiert sich der Künstler selbst, wenn er zum Beispiel seine Bananenschablone in die Bildkomposition einfügt.

Seit 2012 entsteht diese Werkgruppe, und sie ist charakteristisch für Baumgärtel, dessen Markenzeichen zwar die Banane ist, der mit den Spraygrammen aber einmal mehr verdeutlicht, dass er sich über seine Technik des Sprayens definiert.

Bei den Spraygrammen nimmt Baumgärtel, wie auch beim Sprühen des Bananensymbols, die eigene Handschrift weitgehend zurück. Anders als in der Malerei wird der persönliche Duktus ausgelöscht. Es bleibt die Auswahl der Farben, die Intensität des Sprühvorgangs sowie die Bildkomposition, die den Maler Thomas Baumgärtel erkennbar werden lassen.

Das war zu Beginn seiner künstlerischen Entwicklung jedoch noch anders. Damals trieb ihn die Affinität zu einem Thema zu dessen unmittelbarer Umsetzung in Malerei. Der Blick auf den Mitte der 1980er-Jahre entstandenen Zyklus der „medizinischen“ Arbeiten ist für das Verständnis seiner Kunst nach wie vor interessant und erhellend.

In diesen zum Teil großformatigen Bildern verarbeitet Baumgärtel seine Erfahrungen als Zivildienstleistender im katholischen Krankenhaus seiner Heimatstadt Rheinberg. Sie sind voller Empathie und im Gegensatz zu den späteren Spraybildern farbliche Explosionen. Baumgärtels Medizinischer Block reiht sich ein in das Verlangen nach einer individuellen Handschrift, nach einem persönlichen Statement und Einbringen in die Welt, wie sie in der Malerei der Neuen Wilden um Maler wie Rainer Fetting, Salomé, Helmut Middendorf und Bernd Zimmer seit der legendären Ausstellung 1980 in Aachen oder auch zwei Jahre später auf der documenta 7 für alle sichtbar wurden.

Das persönliche Erleben kundzutun und zu einer ausdrucksstarken Malerei zu finden, dies war ein Bedürfnis jener Zeit, das dem jungen Thomas Baumgärtel emotional in die Hände spielte. Die Kunst als eine Möglichkeit, das Leben und Erlebtes zu verarbeiten, gesellschaftliche, religiöse und politische Gegenwart unmittelbar zu kommentieren und zu diskutieren, dies sollte fortan Baumgärtels künstlerisches Credo werden. Dass er mit diesem Lebensentwurf nicht das vom Vater gewünschte Medizinstudium aufnehmen konnte, sondern sich 1985 für das Studium der Freien Kunst in Köln entschied, war konsequent.

In der erwähnten Serie von Köpfen aus dem Medizinischen Block geht Baumgärtel den menschlichen Körper direkt an. Er dringt in ihn ein, lernt von den Röntgenbildern im Krankenhaus den Blick in das Innere des Körpers kennen und übersetzt das Gesehene in expressive Bilder. Die Handschrift überträgt ganz unmittelbar und ohne Filter die Erregung des Künstlers. Das macht sie bis heute zu einem starken authentischen Zeugnis für einen Künstler, umso mehr, da dessen beruflicher Werdegang zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs endgültig umrissen war.

Mit dem historischen Abstand mag man sich an die frühen Arbeiten von Georg Baselitz erinnert fühlen, an Gemälde und Aquarelle mit außerordentlich kraftvollem Duktus, die er um das Pandämonische Manifest herum schuf. Die Auseinandersetzung mit Psychologie ist beiden Künstlern eigen und keineswegs selten in der deutschen Nachkriegskunst. Hier sei am Rande und aufgrund des lokalen Bezugs auch an den viele Jahre in Stuttgart lehrenden Rudolf Schoofs erinnert, dessen Kopfstudien aus den 1960er-Jahren die politische Situation um die militärische Auseinandersetzung sowie die wachsende Kriegsgefahr verarbeiten. Auch bei dem aus Goch stammenden Schoofs sehen wir dieses röntgenartige Eindringen in das menschliche Gehirn, jenen immer intensiver und tiefer gehenden Blick in das Innere unseres Lebenszentrums und den dahinter stehenden Wunsch nach Erkenntnis.

Ob bei Baselitz, Schoofs oder Baumgärtel – Ziel ist die Sichtbarmachung der Verletzlichkeit des menschlichen Körpers und der Versuch, die Ambivalenz der Schöpfung deutlich zu machen.

Es erscheint folgerichtig für Baumgärtel, in dieser emotionalen wie intellektuellen und biografischen Gemengelage neben dem Kunststudium das Studium der Psychologie anzugehen. Parallel hierzu entsteht ein faszinierender Skizzenblock, der bereits von Sandra Abend anlässlich der Ausstellung im Wilhelm-Fabry-Museum in Hilden 2009 umfänglich beschrieben wurde. Mit roter und brauner Beize skizziert Baumgärtel mit raschem Duktus und ebensolcher Empathie die Körperlichkeit, eine spontane persönliche Verarbeitung des Erlebten. Es ist eine starke Reduktion gegenüber den großformatigen Köpfen. Die Haltung dahinter geht aber über deren unmittelbare und expressive Anmutung hinaus. Viele der Blätter sind durch Botschaften aus Zeitungen oder anderen Schriftstücken collagiert und richten damit eine klare Botschaft an den Betrachter. Bereits in dieser frühen Findungsphase zwischen medizinischer und künstlerischer Ausbildung erkennt man Baumgärtels politische Ambitionen und seinen Wunsch, auf die Gesellschaft einzuwirken. In diese Zeit fällt schließlich auch die legendäre Bananenkreuzfindung, in der Baumgärtel mit gleicher Verve und künstlerischer Haltung „ehrfürchtig die Banane mit ihren Ärmchen gekreuzigt“ (Thomas Baumgärtel, 1988) hat.

Es ist diese Grundüberzeugung von der Bedeutung der Kunst als einem gesellschaftlichen und politischen Medium, die Thomas Baumgärtels Frühwerk mit den aktuellen politischen Bildern untrennbar verknüpft. Sie stehen für eine künstlerische Haltung, ein Grundkonzept, das sich früh artikuliert und das der Künstler bis heute immer wieder neu variiert und umsetzt. Es ist die Suche nach der Ordnung im Chaos, ein Grundmotiv und eine Sehnsucht des Thomas Baumgärtel. 

Stephan Mann


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