Katalogtext von Friedhelm Mennekes

Katalogtext von Friedhelm Mennekes anlässlich der Ausstellung „Kaum zu glauben“ in der Städtischen Galerie Wesseling 2015

Kunst und Spiritualität. Einst und jetzt

Die Religion ist ein Ausgriff auf das Ganze der Welt. Im Licht ihrer Inspirationen ist sie die Option, dass zum Ganzen wahrnehmbarer Realität auch die nicht wahrnehmbare des Transzendenten hinzukomme. Sie verneint die alleinige Gewissheit des Sichtbaren und behauptet die Dimension des Ganz Anderen (Paul Tillich) als das Eigentliche des Lebens und der Welt. Ja, dieses Eigentliche sei das Tragende aller Wirklichkeit und ermögliche diese überhaupt erst. Nur von hier aus gewinnt der Mensch sein Maß, das über das Alltägliche hinausreicht und ins Menschliche ruft. An diesem Punkt übt alle Religion eine tiefe Faszination auf die Kunst aus. Hier fordert sie die Kunst zu sich selbst heraus: Religion als Test ihrer selbst, die Kunst als schöpferische Energie, als aufrechter Gang, als Freiheit. Aber an diesem Punkt können sich Kunst wie Religion gegenseitig enttarnen: als kläglich, schwach, selbstverliebt; kitschig, unglaubwürdig, illustrativ; lebensfremd, unmenschlich, unwürdig...

Die Kunst ist immer in Bewegung. Sie will in einer ihr eigenen Unruhe stets über das jeweilige Werk hinaus. Dies ist am Ende mühsam errungen und immer eingebettet in den Prozess eines ungesicherten Suchens. Das künstlerische wie jedes geistige Tun vollzieht sich in der Dialektik von Position und Negation, von Setzen und Hinterfragen, von Zutrauen und Zweifel. Dieser Zweifel ist das eigentliche movens, die treibende Kraft dieser schöpferischen Vorgänge, die unruhige, nie zufriedengestellte Kreativität. Kunst als Erforschung der primären inneren Wirklichkeiten, oder besser: Erforschung und Weiterentwicklung unserer Mittel zur Wirklichkeitsgestaltung; Kunst also, die immer wieder zur Gestaltung des Gestaltlosen ansetzt, wie der Münchener Kunsthistoriker Hermann Kern es einmal ausdrückt.

Nirgends sind sich Kunst und Religion näher als in diesem Punkt. Hier gehen sie parallele Wege. Verwandt ist ihnen aber auch die innere Brüchigkeit ihres Wissens. Zwar ruht der Glaube in einem gemeinschaftlich getragenen Credo, doch muss der einzelne dieses für sich immer lebendig machen. Denn wie alle geistigen Vorgänge ist auch der Glaube bedrängt von den Gefahren der Gewöhnung und Langeweile, von Grenzerlebnissen und Vanitas-Anmutungen oder auch schlicht von einer intellektuellen Müdigkeit. Jede innere Gewissheit ist krisenhaften Entwicklungen ausgesetzt. Dies gilt gerade auch für die religiösen Überzeugungen, deren Funktion es immer nur sein kann, dem unerreichbaren Geheimnis gegenüber sich geheimnisbezogen zu bewähren. Alle Erkenntnis muss die Ungesichertheit eines solchen tastenden Begreifens aushalten. Darum sucht die Religion aus dieser doppelten Erfahrung von Wissenslust und Ohnmacht die Nähe zur Weisheit und Philosophie, zur Literatur und zur Bildnerei, zu Musik, Theater, Tanz...; und letztlich ist gerade diese Offenheit der Grund dafür, dass alle Religionen immer wieder dem Wandel ausgesetzt sind. Formen erstarren; Überzeugungen erweisen sich als irrelevant; Einwände schlagen durch. Nur im stets neuen Ausgreifen über vertraut gewordene Inhalte und Formen kommt die Religion zu sich selbst, sozusagen im Schmerz ihrer permanenten Geburt.

Unsicherheit und Zweifel sind dem Glauben immanent, ja ich denke, dass am Ende die Zweifel für die Menschheit wichtiger waren als der feste Glaube. Dennoch sieht es in der Praxis anders aus. Der Zweifel spielt auf den Kanzeln wie im Alltag der meisten Gläubigen eine untergeordnete Rolle.

Umso mehr und umso systematisierter ist er in der Kunst zu Hause. Hier ist der Zweifel zur Kultur geworden. Hier geht er bis in die Mitte, bis in den Zweifel an sich selbst, dem Zweifel an der Kunst. An genau diesem Punkt, im auflösenden Zweifel gegenüber falschen oder überholten Gewissheiten, im stets erneut ansetzenden und Antwort suchenden Fragen und schließlich im selbstvertraut zustimmenden Antworten liegt ein gläubiger Ausgriff auf die Kunst, auf die Schöpfung, auf Gott. Hier liegt der sensible und zugleich kreative Berührungs- wie Spannungspunkt von Kunst und Religion im aufsteigenden Kreislauf: im Fragen - Zweifeln - erneuten Fragen - erneuten Zweifeln...

Mit dieser angesprochenen strukturellen Parallele scheint sich in der späten Neuzeit der wissenssoziologisch schwergewichtige alte Antagonismus zwischen Kunst und Religion in eine leichtere, generelle Ambivalenz aufzulösen. Mit der wiederholt angesagten ‚Wiederkehr der Religionen‘ unserer Tage sind nicht Gewalt und Angst gemeint, sondern ist eher ein neues Verhältnis von Religion und Gesellschaft angesagt. Ohne die gewaltigen Erschütterungen im Nahen Osten zu verharmlosen, muss kritisch begriffen werden, dass hier die islamisch geprägte Religion als Nomenklatur von hassvollen und zerstörerischen Radikalen missbraucht wird.

Auf der anderen Seite aber spielt sich ein neues Miteinander unter den Glaubensgemeinschaften ein. Künstlerische Kreativität und inspirierter Glaube behaupten sich mehr und mehr als freie Selbstreflexionen des Menschen in der modernen Gesellschaft. Der Mensch von heute befreit sich in der Haltung einer frei gewordenen Intellektualität aus den starren Umarmungen der alten Glaubensinstitutionen und gestaltet sich in aktuellen, offenen Fragestrukturen. So findet er neue Wege und Einstellungen für die Sinnfragen seines Lebens, zu dem, was seiner Welt voraus liegt oder über sie hinauszureichen scheint. Die konzentrierenden Kräfte des Glaubens vermitteln jetzt authentisch zwischen den Spannungen von Bindung und Freiheit, von Raum und Zeit, vor dem Anfang und vor dem Ende. So etablieren sich erneut die Religion wie die Kunst oder andere kulturelle Kräfte als kreative Formen einer gesteigerten Subjektivität in unserer Zeit. Sie machen ihn persönlich frei und sozial widerstandsfähig gegenüber den vielen medialen Gängelungen, die sich um ihn herum medial austoben. Die Kultur in all ihren Kräften wie Kunst, Glaube, Musik, Literatur…, in Philosophie, Soziologie und Wissenschaft kehrt die unbeweglichen geistigen Haltungen in ein neues, dynamisches Verhältnis um; und das im Augenblick nicht nur auf der Kunstbiennale in Venedig, sondern auch in der gegenwärtigen Ausstellung im Kunstverein in Wesseling...

Religiöse Motive mischen sich erneut ins künstlerische Überlegen und Gestalten. Sie dominieren oft die Thematisierung. Sozial erworben und subjektiv aufgehoben, transformieren sie sich im Durchgang durch viele Passagen hindurch in neue Perspektiven und Einsichten. Sie behaupten sich in überzeugenden Werken, leicht oder schwer, ernst oder ironisch, theoretisch, symbolisch oder auch nur zeichenhaft. Sie tauchen aus einer vielfach verdunkelten Memoria auf und leben in neuen Formen dynamischer Stärke, Behauptungs- und Widerstandskraft.

Nichts grundlegend anderes ereignet sich unter den Werken der Ausstellung im Kunstverein Wesseling. Unbefangen greifen die beteiligten Künstlerinnen und Künstler in den Kern ihrer je eigenen Identität und stellen in ihren Arbeiten den Besuchern auf breiter Basis überzeugend die Qualität und die Kraft ihrer künstlerischen Kreativität vor. Anregungsreich schlagen sie neue Brücken – nicht von Frage zu Antwort, sondern von Frage zu Frage - kaum zu glauben.

Der bekannte indisch/britische Bildhauer Anish Kapoor formulierte die dynamische Spannung zwischen Kunst und Religion aus Anlass seiner Ausstellung in der Kunst-Station Sankt Peter: „Kunst und Religion kommen darin überein, dass sie die Welt, wie der Mensch sie sieht, auf den Kopf stellen. So ist er gezwungen, sie von innen her zu greifen und dabei ebenso sich wie seinen Gott zu berühren.“

Friedhelm Mennekes, katholischer Theologe, Priester und Kunstverständiger

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