Katalogtext von Detlef H. Mache
Ein geheimer Code für Verantwortung mit der Sprache der Kunst
Die Banane als Äquivalenzklasse einer Baumgärtel’schen Mathematik
Text im Wienand-Katalog „Thomas Baumgärtel 2008 - 2018"
So wie ein Mathematiker eine eigene Sprache von mathematischen Symbolen, Zeichen und Formeln verwendet, setzt Thomas Baumgärtel in seinem künstlerischen Koordinatensystem für seine Sprache der Kunst und deren Symbolik die „Banane“ ein. Er ist ein Künstler mit einer besonderen Prägung und Ausdrucksvielfalt, der in seinen Werken und Aktionen die unvergleichliche Originalität der adaptierten Konzepte der Urban-, Street- und Pop Art wirksam und gezielt einsetzt.
In den Kunstwissenschaften hat man sich schon des Öfteren der reizvollen Aufgabe gestellt, wie man eine passende psychologische Sichtweise und Philosophie dieser „Banane“ von Thomas Baumgärtel deuten kann
In zahlreichen historischen Einordnungen vergleicht der britische Mathematiker Godfrey H. Hardy die Arbeit eines Mathematikers mit der von bildenden Künstlern und Dichtern, da es zahlreiche Gemeinsamkeiten, kreative Zugänge und vielschichtige Berührungspunkte in den Betrachtungen von Strukturen, Mustern und Grundgedanken der jeweiligen Gebiete gibt. Denn sowohl für den Mathematiker als auch für den Künstler stehen Muster, Symbole und Strukturen im Fokus ihrer Betrachtungen und ihres kreativen Schaffens mit dessen ideenreichen Umsetzungen. Beide bedienen sich zur Lösung einer sich selbst gestellten Aufgabe oder Idee ihrer wirkungsvollen Ausdrucksmittel. Auch der Dichter und Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger vergleicht die Kulturleistung der Mathematiker mit der der Künstler, da ihnen ästhetische Prinzipien nicht fremd sind. Die Tatsache, dass sich Menschen den ästhetischen Genuss etwa der Fourier-Analyse, der approximationstheoretischen Methoden der Angewandten Mathematik oder der schlichten Lösung einer Differentialgleichung entgehen lassen, zeigt das kulturelle Paradoxon auf, dass große Teile der Bevölkerung über den Stand der griechischen Mathematik nie hinausgekommen sind, obwohl wir in einem „goldenen Zeitalter der Mathematik“ mit herausragenden Leistungen Einzelner leben. Bedauerlicherweise wird die kindliche Faszination am mathematischen und kreativen Denken nur teilweise genutzt und gefördert.
Eine Codierung als Botschaft für freiheitliches Leben
Aus Sicht der Mathematik könnte man die Kunst von Thomas Baumgärtel auch als eine einfache mathematische Gleichung interpretieren, in der die Codierung einer an die Wand gesprayten Banane als eine Variable für Kunst und freiheitliches Leben gesetzt ist: Es stellt somit eine Art Äquivalenzbeziehung dar, in der der Künstler seine Intention auch mit der Variable „Banane“ gleichsetzt und damit die „Banane“ als Symbol für das Leben und deren Freiheit definiert. Somit steht die „Banane“ als Äquivalenzklasse einer Baumgärtel’schen Mathematik und der damit verbundenen Analysis und Philosophie.
In dieser Äquivalenzklasse spiegeln sich einige der zentralen Errungenschaften unserer Kulturgeschichte wider. Das Resultat ist eine Gleichung mit einer Botschaft für Freiheit – insbesondere für die Freiheit der Künste, für gelebte Verantwortung, Toleranz und Zivilcourage, aber auch für die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Familie, die zu überdenkende Beziehung zwischen Mensch und Natur und auch die gegenseitige Verständigung der Menschen untereinander in einer immer komplexer erscheinenden Welt.
In einem Gedankenaustausch mit Thomas Baumgärtel in seinem Kölner Atelier – übrigens bei einer Tasse Kaffee und einem wohlschmeckenden selbst gebackenen Bananenbrot – spricht er von sich selbst als Street-Art-Künstler, dessen Wurzeln einerseits bei den „Ur-Vätern“ der Graffitikunst und Street Art wie Jean-Michel Basquiat, Keith Haring, Harald Naegeli und Blek le Rat zu finden sind, andererseits bei Banksy, Joseph Beuys, Marcel Duchamp und Andy Warhol. Bei Künstlern also, die gegen etablierte Kunst- und Kommunikationsstrukturen rebellierten, aber auch eine alternative und kritische Sichtweise auf gesellschaftliche Themen hatten respektive haben.
So erinnert die von Thomas Baumgärtel gefertigte „Ur-Banane“ auf den ersten Blick an eine 20 Jahre früher entstandene „Banane“ von Andy Warhol, die das Plattencover eines der einflussreichsten Alben in der Geschichte der Popmusik ziert: The Velvet Underground & Nico. Es ist das von Warhol produzierte und 1967 veröffentlichte Debütalbum der experimentellen Rockband The Velvet Underground mit der gebürtigen Kölner Sängerin Nico alias Christa Päffgen. Folgt man der Aufforderung „Peel slowly and see“ auf dem Plattencover und zieht die gelb-schwarze Schale der „Banane“ ab, so kommt darunter eine leuchtend pinkfarbene Frucht zum Vorschein, die beim Betrachter phallische Assoziationen auslöst.
Aus all den in der Folge entstandenen, auf Warhol rekurrierenden Bananen von Thomas Baumgärtel sticht eine besonders hervor: die Thon-Banane aus dem Jahr 2009, deren Schale dieselbe Schattierung zeigt wie Warhols Banane. Durch diese bewusste Ähnlichkeitswirkung erlaubt Thomas Baumgärtel dem Betrachter seiner Arbeit auch einen verlockenden Perspektivwechsel und eine ansprechende Ästhetik.
Ähnlichkeitsprinzip und ästhetischer Charakter der Kunstikone „Banane“
Thomas Baumgärtel verbindet in seinen Arbeiten die Techniken des Schablonen- oder Stencil-Graffiti mit den damit eng verwandten Konzepten der seriellen Produktion. Das Ergebnis ist ein spannender Diskurs, der Fragen über die eigene Positionierung und den
damit beabsichtigten Dialog zwischen serieller Ähnlichkeit und künstlerischer Unterscheidbarkeit aufwirft. Insbesondere bei der Volksbanane ist das Prinzip der Ähnlichkeit, des Nebeneinanderstellens und der Wiederholung offensichtlich. Mit der gezielten Verwendung dieser Kunstikone „Banane“, die sich in den Werken, aber auch an den Wänden der verschiedenen von Baumgärtel ausgezeichneten Kunstorte kaum unterscheidet, wird das bewusste Nebeneinanderstellen zu einer konzeptionellen Komposition mit symbolischem und teilweise philosophischem Charakter. Diese serielle künstlerische Umsetzung und Interpretation der „Banane“ geben ihr eine neue Individualität und zeigen gleichermaßen – ähnlich wie bei Andy Warhol –, dass nicht mehr das Motiv an sich im Vordergrund steht, sondern die Art der Herstellung und der damit verbundene manipulative und ästhetische Charakter. Baumgärtels künstlerische Adaption des Ähnlichkeitsbegriffs weist auf eine tiefere philosophische Sichtweise des Erkennens der Wirklichkeit hin. Im Spektrum dieser schablonierten, vermeintlich gleichartigen Bananenmotive versteht es Thomas Baumgärtel, die Vielschichtigkeit seiner Bananenvariationen zum Ausdruck zu bringen. Die Baumgärtel’sche „Banane“ wird zu einer Codierung, die anhand eines speziellen, wechselnden Algorithmus ein neues Verständnis für eine besondere Entschlüsselung der Ästhetik in der Kunst schafft.
Für eine umfassende Gesamtanalyse des künstlerischen Schaffens und Kunstverständnisses von Thomas Baumgärtel findet man eine Reihe von kunsthistorischen und -theoretischen Klassifikationen und Deutungsversuchen, die sich ebenso seiner soziologischen, psychologischen und gesellschaftskritischen Sicht auf Kunst und Leben ausführlich widmen. Dabei sind auch seine persönlichen Wesenszüge mit einzubinden, die sich in erster Linie in seiner kreativen Leichtigkeit, seiner spielerischen Phantasie und seinem unermüdlichen Schaffensdrang – teils frech, spitzbübisch, subversiv und rebellisch – für die Freiheit der Kunst ausdrücken.
Hinterfragen einer formatierten Matrix von Denkmustern und -strukturen
Dies spiegelt sich auch mit Blick auf eine gewisse Art von kreativer Ordnung in seinem Kölner Atelier wider. „Achtung! Laufender Kunstprozess!“ liest man auf einem Schild neben einem Regal mit zahllosen Spraydosen an der hinteren Wand. Wobei die Dosen überwiegend nach gelber, aber auch oranger, silberner und schwarzer Farbe sortiert sind. Neben einer großen besprühten Betonbanane auf einem hydraulischen Handhubwagen liegen farbverklebte Schablonen herum. Zwischen zwei ausgedienten Holzkabeltrommeln entdeckt man in Regalen unterschiedliche Pakete und in Luftpolsterfolie eingepackte Kunstwerke. In weiteren Hochregalen stapeln sich – akribisch sortiert – großformatige, teilweise noch im Entstehen befindliche Kunstwerke. Gleich davor liegen Baumgärtels zahlreiche Sammlerstücke von historischen und ausrangierten Schildern, diverse Utensilien und eine alte, in einem typischen Holzrahmen eingefasste Schultafel, womit man einen ersten Eindruck seines nahezu grenzenlosen kreativen Gedanken- und Erfindungsspektrums gewinnt.
Daneben steht auf einer Holzstaffelei ein beinahe gänzlich verbranntes Bild, auf dem nur noch Fetzen von gesprayten Zeichen auf Pappe zu erkennen sind.. Diese Arbeit ist ein interessantes Überbleibsel aus einer jüngst stattgefundenen Kunst-Performance-Aktionvon Thomas Baumgärtel, die – ähnlich wie Banksys spektakuläres ferngesteuertes Schreddern seiner Arbeit Girl With Balloon (Love is in the Bin, so der Titel nach der Zerstörungsaktion) vor den Augen sprachloser Kunstsammler einer Auktion – zu einem Überdenken des Kunstbegriffs und den damit zusammenhängenden Denkmustern anregen sollte.
In diesem Kontext könnte man die Ansicht des deutschen Philosophen und Lebenskünstlers Christoph Quarch heranziehen, dass uns nichts selbstverständlicher scheint, als dass wir denken. Doch nichts ist so wenig selbstverständlich wie die Art und Weise, wie man denkt. Stets bewegt man sich auf teils engen geistigen Ebenen, die man aus den unterschiedlichsten Bereichen aufgenommen hat: beispielsweise aus Kunst und Kultur, Religion, aus dem Umgang mit Menschen oder aus den Medien, die unsere eigene Matrix des Denkens formatiert haben, ohne dass man sich dessen im Detail immer bewusst wäre. Das Denken fängt damit an, dass man diese formatierte Matrix in regelmäßigen Abständen hinterfragt. Mit solchem Überdenken kann man zu neuen Denkmustern und -strukturen gelangen, mit denen man durch verantwortliche Handlungen sich selbst und seine Umgebung grundlegend verwandeln kann.
Rückblickend ist das entscheidende Schlüsselerlebnis für die Geburtsstunde der Baumgärtel’schen „Ur-Banane“ im Jahr 1983 zu finden, als Thomas Baumgärtel während seines Zivildiensts in einem katholischen Krankenhaus seiner Geburtsstadt Rheinberg ein Holzkruzifix „reparierte“. Es war von der Wand gefallen und die Christusfigur hatte den Sturz nicht überstanden, sodass er die fehlende Figur durch eine Bananenschale vom letzten Frühstück ersetzte, um damit auch – wie er in unserem Gespräch bemerkt – die Reaktionen der Patienten und Ordensschwestern zu beobachten, ohne mit dieser Aktion die Auswirkungen auf sein weiteres künstlerisches Leben vorauszuahnen.
Aus heutiger Perspektive ist das oben erwähnte „Bananenerweckungserlebnis“ mit der „Ur-Banane“ am Kreuz prägend, wegweisend und ikonisch zugleich, woran sich für Thomas Baumgärtel einerseits ein Studium der Freien Kunst (Meisterschüler von Franz Dank) und andererseits auch der Psychologie anschließt. Im Rahmen seiner Studienzeit lässt ihn die gelbe Südfrucht nicht mehr los, sodass im Dezember 1986 – noch inkognito – die erste in Graffitimanier gesprayte „Banane“ entsteht.
Um jedoch ein tieferes Verständnis für die „Banane“ von Thomas Baumgärtel und sein Œuvre zu bekommen, muss man sich seine künstlerischen Umsetzungen und deren Wirkung genauer anschauen. Eine grundlegende Intention für sein künstlerisches Arbeiten liegt darin, den Betrachter aus seiner üblichen passiven Rolle zu lösen.
Für dieses Kunstverständnis findet man auch bei Künstlern wie Joseph Beuys und Marcel Duchamp einen parallelen Ansatz einer gewandelten Ästhetik in deren Aktions- und Objektkunst. Als sich Duchamp 1912 bewusst von der Malerei abwandte und nach einem neuen Sinn in der Kunst suchte, vermochte er sein künstlerisches Handeln zuerst nicht klar zu definieren. Mit seinem Konzept des „Objet trouvé“ – also der Verwendung eines gefundenen Alltagsgegenstands wie beispielsweise das Speichenrad eines Fahrrads – erklärte er bereits die Auswahl des Gegenstands zusammen mit dessen Montage auf einem Holzhocker zur Kunst, womit er sich damit einem Hilfsmittel für eine analytische Untersuchung zur Erfassung und Deutung des Lebens bediente.
Duchamp – einer der „Ur-Väter“ der Konzeptkunst und Wegbereiter des Dadaismus – erklärte später, dass es sich beim Fahrrad-Rad (1913), seinem ersten „Readymade“, zunächst um ein „privates Versuchsgerät eines experimentellen bildnerischen Denkens“ gehandelt habe. Konkret habe er dieses Objekt nicht erschaffen, um es auszustellen und damit einen Skandal zu provozieren, sondern „to answer some questions of my own – as a means of solving an artistic problem without the usual means or processes“.
Beide – Duchamp mit seiner Objektkunst und Baumgärtel mit der Verwendung seiner „Banane“ – sorgen für ein (r)evolutionäres Kunstverständnis, indem sie auf ihre Art und Weise unter dem jeweiligen zeitlichen Kontext die festgelegte ästhetische Wahrnehmung der Kunst in den Museen, Galerien und sonstigen Kunstorten hinterfragen. Denn alle Objekte, die man in einem musealen Rahmen präsentiert, werden automatisch als Kunst definiert. Auch ist das „subjektiv evidente und wahre, idealistische ästhetische Erleben“ nichts anderes „als ein konventioneller Reflex auf den Kontext, auf den kulturellen Rahmen“.
Dieses grundsätzliche Überdenken der Definition von Kunst und deren Darstellung des manipulierbaren ästhetischen Empfindens spiegelt sich in den Werken und Projekten von Thomas Baumgärtel wider. Für die zentrale Identität durch die Verwendung des Motivs einer „Banane“ oder deren adaptierten Metamorphosen fordert der Künstler Thomas Baumgärtel – wie vor ihm Marcel Duchamp mit seinen „Readymades“ – eine ästhetische und gedankliche Kunsterweiterung: Um als Kunstwerk anerkannt zu werden, muss das Artefakt nicht notwendigerweise ästhetisch oder ansehnlich sein – was im Fall einer ungeschälten „Banane“ noch der Fall wäre.
Im Vordergrund stehen vielmehr das Verständnis und die Wahrnehmung einer Idee und deren Intention, hinter welcher der gestalterische Schaffensakt des Künstlers zurücktritt. Infolgedessen muss es für einen Künstler nicht mehr Aufgabe sein, die Schönheit und Ästhetik hervorzubringen, sondern neue Perspektiven zu eröffnen und den Horizont des menschlichen Vorstellungsvermögens permanent zu erweitern.
Wandlungsprozess für die Freiheit der Kunst
Dieses überdenkende Kunstverständnis lässt sich exemplarisch auch mit einer Kunstaktion von Thomas Baumgärtel am 17. März 1993 an der Kölner Plastik Ruhender Verkehr(1969) des Künstlers Wolf Vostell verdeutlichen.
Auf dem Kölner Hohenzollernring machte Baumgärtel Vostells Betonauto in einem zehnstufigen „Wandlungsprozess“ – beginnend mit der Vorarbeit seiner Bananisierung mit Schablone und Spraydose (Wandlung I–IV), über die Wandlungen der „Euroversion“ (Wandlung V) und der mit aufgesprayten „Bananen“ befreienden „Reinigung“ (Wandlung VI–VIII), bis hin zu den abrundenden Wandlungsstufen „Freiheit für die Kunst“ (Wandlung IX und X) – zu einem Sinnobjekt des Denkens und des Lebens. Ein „fließender“ Prozess ständiger Metamorphose für die Freiheit der Kunst, der mit einer scheinbar absurden und konzeptlosen Provokation die Vergänglichkeit und Wandelbarkeit des Denkens und des Lebens verdeutlicht.
Sieht man diese Kölner Wandlungsaktion nun auch im historischen Kontext der deutschen Wiedervereinigung und europäischen Öffnung, so unterstreichen die in den frühen 1990er-Jahren entstandenen Werke Europa-Platz und Bananen für Europa zusätzlich die Symbolik der gesprayten Kränze mit den zwölf goldgelben, fünfzackigen Sternen auf blauem Hintergrund. Angemerkt sei, dass die Zahl zwölf traditionell Vollkommenheit, Vollständigkeit und Einheit symbolisiert. Sie steht aber unter anderem genauso für die zwölf Apostel, die zwölf olympischen Götter aus der griechischen Mythologie und die zwölf bronzenen Tafeln – leges duodecim tabularum, „Zwölftafelgesetze“ – des ersten niedergeschriebenen römischen Rechts als Ausdruck der europäischen Rechtsgemeinschaft.
Mit den 1993 entstandenen diversen Eurobananen beschreibt der Künstler Thomas Baumgärtel – auch unter Verwendung eines gelben Kranzes aus „Bananen“ statt den Europa-Sternen – die Einheit und Identität Europas und setzt ein klares Statement für die europäischen Werte und Europas Verantwortung für die Menschen.
Betrachtet man die verwendeten Kränze aus Sternen und „Bananen“, so werden auch Assoziationen an den menschlichen Lebenskreislauf wach, an philosophische Betrachtungen des Kreises als Symbol der Ewigkeit – kein Anfang und kein Ende, Licht und Schatten, Tag und Nacht, Geburt und Tod. Also scheinbare Gegensätze, die in ihrer wechselseitigen Bezogenheit aber eine Gesamtheit bilden, einen ewigen Kreislauf, in dem das Nebeneinander und Gegenüber miteinander verbunden sind.
Mathematisch gesehen ist ein solcher Kreis eine unendliche Punktmenge, deren Elemente einen konstanten Abstand zu einem vorgegebenen Mittelpunkt haben. Übertragen auf den Kreislauf des Lebens, sitzt jeder einzelne Mensch im Mittelpunkt dieses Kreises. Der Kreis steht aber auch symbolisch für unsere gemeinsame Erde und für den gedanklichen Austausch unter den Menschen am „runden Tisch“. Jeder einzelne Mensch hat die Verantwortung für die Zukunft zu tragen!
Mit dem Symbol der „Banane“ wächst zusammen, was zusammen gehört
Gerade unter diesem Blickwinkel spiegeln sich in Thomas Baumgärtels Œuvre verschiedene Facetten des gesellschaftlichen Verlangens nach positiver Veränderung, Wandlung, Freiheit und Verantwortung wider. In prägender Art und Weise wird dieses Verlangen in den Arbeiten rund um die Deutsche Einheit und der symbolischen Kraft des Brandenburger Tores sichtbar. Das Brandenburger Tor in Berlin ist das markanteste Wahrzeichen der deutschen Hauptstadt, steinerner Zeuge der dunkelsten wie auch der lichtesten Momente der letzten 200 Jahre deutscher Geschichte. Ein monumentales Tor, das lange Zeit als Symbol der Teilung und als unüberwindbare Grenze zwischen Ost und West stand. Heute ist es das Symbol der Deutschen Einheit, Sinnbild für Hoffnung und Freiheit, das sich tief ins kollektive Gedächtnis der Menschen eingebrannt hat.
In den drei Werken Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben (Albert Einstein) (2009, zusammen mit Harald Klemm), 9. November 1989 (2000) und 25 Jahre Deutsche Einheit (2015), werden die beiden Symbole – das Brandenburger Tor für die deutsche Geschichte und die „Banane“ für die Freiheit der Kunst – in einer gelungenen Ausdrucksform zusammengefügt. Man erkennt beispielsweise eine Familie, der man den Schmerz über die lange Trennung und das Glück über die nun zurückgewonnene Freiheit ansieht. Über Jahrzehnte war ihr der Blick auf das Brandenburger Tor verschlossen. Ganze Familien wurden bekanntermaßen auseinandergerissen und gegeneinander aufgebracht. Die Kunstwerke selbst erwecken beim Betrachter das Tor zu neuem Leben und erzeugen ein Gefühl der Freiheit. Man kann in diesen Bildern spüren, wie das Brandenburger Tor und die trennende Grenze zwischen Ost und West überwunden und die Freiheit in friedlicher Weise von den Menschen zurückerobert wurde.
In der Installation Baustelle Europa, die im Herbst 2016 im Osthaus Museum Hagen präsentiert wurde, haben Deutsche Einheit, goldgelbe EU-Sterne und Friedenstaube zusammen mit den gesprühten Schriftzügen und der „Banane“ eine europäische Dimension, womit der Künstler die Installation ebenfalls für das Zusammenwachsen und das Miteinander der Menschen in Europa konzipierte.
Mit Blick auf drei Spraylackarbeiten jeweils auf Zeitungspapier mit den Titeln Ein Symbol und nichts weiter? (Berliner Zeitung vom 3. Oktober 1990), Freiheit (FAZ) und Deutschland vereinigt (Hamburger Abendblatt), die alle anlässlich des 25. Jahrestags der Deutschen Einheit 2015 entstanden, kombiniert Baumgärtel 25 Jahre alte Zeitungsaufmacher mit seinen eigenen „Freiheitssymbolen“: Zusammen mit der kulinarischen Verbindung der „Banane“ und einer Bratwurst – ob Nürnberger, Berliner oder Thüringer sei dahingestellt – stehen beide Kult-Nahrungsmittel für eine symbolische Interpretation der Wiedervereinigung.
Die Kunst kann dabei als Mittel einer Transformation gesehen werden, die sie zurück zu ihrem ursprünglichen Wesen bringt und gleichzeitig den Betrachter in eine notwendige gesellschaftliche Reflektion hinein bezieht. Der Kunstbegriff von Thomas Baumgärtel wird nicht allein durch sein umfassendes Œuvre veranschaulicht, sondern ebenso im Rahmen seiner Tätigkeit als pädagogischer Künstler, Psychologe und insbesondere als Freiheitskämpfer für die Kunst und deren künstlerische Ausdruckskraft in der Gesellschaft sichtbar.
Thomas Baumgärtel hat mit seiner Kunst eine neuartige Funktion und symbolische Ausdrucksweise erschaffen, zu deren Konsequenzen auch die Erweiterung des Kunstverständnisses durch die Einbeziehung eines „banalen“ Gegenstandes – seiner gesprayten „Banane“ – steht. Er fordert den Betrachter seiner Kunst auf, eine grundlegend tiefere Interpretation seiner Kunstwerke und Aktionen vorzunehmen, die sowohl Baumgärtels Intention als auch die eigene, erlebende Rolle des Betrachters betrifft.
Während der Künstler Thomas Baumgärtel seine künstlerische Aufgabe auch in den geistigen und psychologischen Bereich verschiebt und damit als ideenreicher Freiheitskämpfer für die Kunst agiert, wird dem Betrachter seiner Werke durch die Deutung seiner Formsprache mit der „Banane“ eine eigenständige Rolle zugesprochen. Mit dieser geistigen Auseinandersetzung integriert der Künstler den Betrachter seiner Arbeiten zu einem festen und eigenständigen Bestandteil seines Werkes, womit die Intention des Künstlers mit der seiner symbolischen Sprache und eigenwilligen Ästhetik in den Mittelpunkt gestellt wird.
Exemplarisch für diesen Ansatz ist das interaktive Kunstprojekt Volksbanane, das schließlich 999 Holztafeln umfassen wird. Es stellt durch den Austausch und die aktive Einbindung des interessierten Betrachters erstmalig eine Umkehrung der klassischen Kunstaktion dar. Mit diesem internetbasierten Gesamtkunstwerk kann jeder Interessierte auf einer Holztafel mit der gesprayten „Banane“ in den Dialog mit der Kunst und dem Künstler treten. Die dazugehörige Aussage auf dem Kunstwerk liegt ganz in der Verantwortung des Mithandelnden und wird somit zu einer interaktiven Gemeinschaftsarbeit. Hiermit werden gedankliche wie philosophische Brücken zwischen verschiedenen „Welten“ geschaffen, die einen kommunikativen Dialog mit der Sprache der Kunst bilden. Mit diesem Dialog wird der traditionelle Kunstbegriff in Teilen aufgehoben, sodass man in direkter Verbindung mit einer eigenen Aussage in Form einer Art psychologischen Interaktion aktiv aufgefordert wird.
Thomas Baumgärtel erreicht seine Wirkung auf den Betrachter auch durch den geschickten Umgang beim Sprayen mit der Signalfarbe Gelb. Dabei ist Gelb nicht nur in Bezug auf die natürliche Färbung der „Banane“ ein entscheidender Wahrnehmungsfaktor, sondern auch in der Farbpsychologie eine der lichtintensivsten Farben, die ganz bewusst wahrgenommen wird. Gelb ist die Farbe der Sonne und des Lichts, vermittelt Heiterkeit und Glück und symbolisiert Freundlichkeit und Offenheit sowie großen Freiheitsdrang.
Künstler wie Franz Marc setzten sich mit der Farbenlehre von Johann Wolfgang von Goethe und deren kunsttheoretische Symbolik wie von Philipp Otto Runge auseinander. Dass die Farbe Gelb beispielsweise das „Sanfte, Heitere und Sinnliche“ und damit Attribute des Weiblichen verkörpern, ist aus einem regen Briefverkehr zwischen Franz Marc mit August Macke zu entnehmen. Eine einzigartige Ästhetik und den Sinn des Universums strahlt die Farbe Gelb auch in der chinesischen Tradition aus, wo eine gelbe Drachenrobe lange Zeit das typische Kleidungsstück chinesischer Kaiser war und damit auch in der chinesischen Harmonielehre für Weisheit, Geduld und Toleranz steht.
Freiheitsphilosophie als Seismograph für gelebte Verantwortung
Wie kaum ein anderer zeitgenössischer Künstler macht Thomas Baumgärtel die Themen „Leben“, „Freiheit“ und „Verantwortung“ zum Leitmotiv seines künstlerischen und öffentlichen Wirkens. Der Bananensprayer, Street-Art-, Aktions- und Graffitikünstler und auch Freiheitskämpfer ist aus der zeitgenössischen Kunstwelt nicht mehr wegzudenken. Mit seinem multimedialen Œuvre, angefangen bei den Spraybananen, über Zertrümmerungs- und Verbrennungsaktionen und deren eigenwillige Interpretationen, den nachdenklich stimmenden Collagen, zahllosen Metamorphosen, Übersprühungen von Zeitungen, gelben Telefonbüchern oder alter Meister bis hin zu facettenreichen Druckgraphiken ist Baumgärtel ein gesellschaftspolitisch denkender Künstler mit einer Freiheitsphilosophie, der gezielt Verantwortung übernimmt. Verantwortung kommt von antworten. Ein verantwortlicher Mensch wie Baumgärtel antwortet mit seinen Mitteln und seiner Person auf den Anspruch, der an ihn ergeht: Er gibt nicht nur eine Antwort, sondern er ist eine Antwort.
Die Freiheit der Kunst ist ein Seismograph für die Veränderungen in einer demokratischen Gesellschaft. Hierzulande ist die Kunstfreiheit fest verankert. Ein Mensch wie Thomas Baumgärtel setzt eine Botschaft für die Freiheit – insbesondere für die Freiheit der Künste – und übernimmt gelebte Verantwortung.
Detlef H. Mache
Literatur:
Baumgärtel, Bettina: „Nichts ist so, wie es scheint“, in: Thomas Baumgärtel. 30 Jahre Bananensprayer, Ausst.-Kat. Osthaus Museum Hagen 2016/17, Hagen 2017 (= Schriftenreihe des Fachbereichs Kultur, Bd. 7), S. 8-18;
Enzensberger, Hans Magnus: Drawbridge Up. Mathematics – A Cultural Anathema / Zugbrücke außer Betrieb. Die Mathematik im Jenseits der Kultur. Eine Außenansicht, Illustrationen von Karl Heinrich Hofmann, Natick 1999 (anlässlich des Internationalen Mathematiker-Kongresses in Berlin, August 1998);
Hardy, Godfrey Harold: A Mathematician’s Apology, with a foreword by C. P. Snow, University Press, Cambridge 1967;
Macke, Wolfgang (Hrsg.): August Macke – Franz Marc. Briefwechsel, Köln 1964;
Meinhardt, Johannes: Ende der Malerei und Malerei nach Ende der Malerei, Cantz, Ostfildern-Ruit 1997;
Molderings, Herbert: „Ästhetik des Möglichen – Zur Erfindungsgeschichte der Readymades Marcel Duchamps“, in: Mattenklott, Gert: Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, Hamburg 2004, S. 103–136.