Eröffnungsrede zur Ausstellung Nichts ist so wie e
Der Titel der Ausstellung ‚Nichts ist so wie es scheint‘ ist – wie ich finde – klug gewählt, denn weder der Künstler, noch sein Werk sind das, was sie scheinen. Mit anderen Worten Thomas Baumgärtel ist kein Künstler im klassischen Sinne. Er ist auch kein Maler, der nach landläufiger Vorstellung, mit Pinsel und Palette zu Werke geht. Und seine Kunst lässt keine eindeutige Definition zu, ebenso wenig wie seine Werke, die sich nicht in die üblichen Gattungen Malerei, Zeichnung, Skulptur oder Neue Medien einordnen lassen. Diese mehrfache Verneinung verweist auf das rebellische Moment in seinem OEuvre, denn – so meine These: Alles scheint hier nur so, so wie es nicht ist. Kein Wunder, wenn Sie jetzt irritiert sind, deshalb lassen Sie mich darlegen, warum ich denke, dass hinter der Kunst von Thomas Baumgärtel weit mehr und anderes steht, als es auf den schnellen Blick den Anschein hat. Titelgeber der Ausstellung sind zwei jüngst entstandene Kunstobjekte, die hier erstmals ausgestellt werden: Das „Malerwerkzeug“ und die große Kabeltrommel, beide sind mit dem genannten Motto „Nichts ist so wie es scheint“ bezeichnet. Durch ihren silberfarbenen Anstrich werden sie ihrer banalen Funktionalität und abgenutzten Alltagserscheinung enthoben. Erst durch die Veredelung wird die ehemalige Kabeltrommel in ihrer klassischen Formenschönheit neu wahrnehmbar, und zwar als minimalistische Rückbesinnung an einen antiken Säulenschaft mit kreisrunder Plinthe und Gesims. Auch das „Malerwerkzeug“, das hier wunderbar als Irritationsmoment funktioniert, so als sei es vom Aufbau vergessen worden oder zufällig übrig geblieben. Wenn der Eimer, Pinsel und das Abstreifgitter ausgedient haben, sind sie schnöde Wegwerfprodukte, hier verlieren sie aber durch den chromefarbigen Überzug ihren ursprünglichen Funktionszusammenhang und werden zum Kunstwerk nobilitiert. Erst durch diesen Eingriff können Sie, meine Damen und Herren, die Erscheinungsformen wie das Oval des Farbeimers oder die Rasterung des Abstreifgitters neu und wertfrei erkennen. In den letzten dreißig Jahren hat Thomas Baumgärtel ein Werk geschaffen, das mit Recht als intermedial bezeichnet werden kann. Neben Gemälden, Zeichnungen und Druckgraphiken hat er sich auch der Fotocollage, neben Übermalungen von Fotos auch Übersprühungen gewidmet, nicht allein von Gemälden „Alter Meister“, sondern auch von zahllosen Objekten. Er hat sich keineswegs nur mit dem Staffeleibild, sondern auch intensiv mit der Wandmalerei im öffentlichen Raum, ja sogar mit der Glasmalerei beschäftigt. Und so haben sich im Laufe der letzten dreißig Jahre manche Bananenberge an Häuser- und Fabrikfassaden aufgetürmt, die inzwischen das Gesicht des Ruhrgebiets mitprägen. Damit nicht genug, die breite Palette des künstlerischen Schaffens von Thomas reicht von der Objektkunst bis zur Aktionskunst, es umspannt Kunstformen vom „Ready made“ bis zum „Objet trouvé“ – d.h. bis zu einem Fundstück wie der hier gezeigten „Zertrümmerten Sitzbank“. Die Ulmer Retrospektive zeigt sehr schön, wie fließend bei ihm die Grenzen zwischen Bildwerk und Aktion sind. Seine Kunst ist mehr als ihre materielle Präsenz und Dinghaftigkeit, sie umfasst den gesamten Lebens-zusammenhang, sie nimmt Stellung zur aktuellen Politik und bringt seine Lebenshaltung und seinen Wertekanon zur Geltung. Neben seinen subversiven Sprayaktionen haben seine Performances und Happenings, erhebliches Aufsehen erregt. Ich erinnere mich lebhaft an die Blitzaktion „Wir lieben die Hohe Kirche“ anlässlich des 750. Dom-Jubiläums, wo auf der Domplatte von Köln eine dinosaurierartige Banane sekundenschnell zu einer überdimensionalen Bananenskulptur entfaltet wurde und das Hauptportal des Kölner Doms gleichsam penetriert wurde. Es war – wenn Sie so wollen - eine frühe Form des Flash-Mobs gegen die damalige unsoziale Politik der Kölner Kirche, geeignet die Gemüter zu erregen und Grundsatz-Diskussionen anzustoßen.
Im Bereich der Objektkunst aber hat Thomas Baumgärtel im Laufe der letzten 30 Jahre sicher den größten Facettenreichtum innerhalb seines Gesamtwerks entwickelt. Darin enthalten sind Multiples von übersprühten Telefonbüchern, betitelt „Gelbe Seiten“ aus dem Jahr 2002, bis zu Zertrümmerungen wie der gesprengten Betonbanane, dargeboten in einem Reagenzglas mit dem Titel „Bananensplit“, oder die erst vor wenigen Wochen fertig gestellte monumentale Spraydose, betitelt „BKing“. Der Titel ist – wie so oft im OEuvres des Künstlers – doppeldeutig: er ist selbstreferenziell zu deuten als Bananen-König und verweist auf ‚King-Seize‘ in Bezug auf das Überformat, die Monumentalisierung des sonst handlichen Objekts. „BKing“ ist zu Recht der Blickfang dieser Ausstellung. Alles in allem kann man sagen, Thomas Baumgärtel hat ein umfassendes System bildnerischer Praktiken entfaltet, das von einem unermüdlichen Schaffensdrang zeugt. Auf den ersten Blick mögen seine Kunstformen einen heterogenen Eindruck vermitteln, sie alle sind jedoch von einem obersten Lebensprinzip durchdrungen. Dafür hat Thomas Baumgärtel ein für alle lesbares Zeichen, ein fröhliches, lustvolles Signet, gefunden: die Banane. Wenn man wie ich das Glück hat, seit mehr als 30 Jahren Werden, Wandel und Wirken von Thomas’ Schaffen aus schwesterlicher Nähe zu verfolgen, ein Schaffen, das mit Humor und Satire gewürzt ist, aber keineswegs der Selbstironie entbehrt, ein Schaffen, das von Freiheitswillen und Widerstandskraft zeugt, aber auch die Bodenhaftung und das Self-Management im Auge behält, dann sei einmal eine provokante These erlaubt, frei nach dem Motto der Ausstellung ‚Nichts ist so wie es scheint‘: Im Werk von Thomas Baumgärtel geht es nicht wirklich um die Banane.
Sein Ziel ist nicht das „wieder-erkennende Gegenstandssehen“ einer Banane, nicht die Nachahmung der simplen Dingwelt, das wäre zu einfach, sondern ihn interessieren vorrangig übergreifende Phänomene, die die Wirkungsmacht der Kunst berühren. Je profaner aber der dafür verwendete Gegenstand ist, desto mehr ist er prädestiniert, unsere Anschauung zu stimulieren und unsere Wahrnehmung zu intensivieren.
Ein Künstler wie Thomas Baumgärtel, der sich intensiv mit wahrnehmungs-psychologischen Fragen auseinandergesetzt hat, weiß dies nur zu gut. Und er ist sich bewusst, dass Anschauung von Kunst immer bedeutet, sich auf einen endlosen Prozess eines sich immer neu konstituierenden, vorbegrifflichen Sehens einzulassen. Einfach ausgedrückt, Kunstanschauung heißt, das Abenteuer des vorurteilsfreien Sehens und die Herausforderung lustvoller Erkenntnis anzunehmen. Es liegt ganz an Ihnen, meine Damen und Herrn, was Sie wahr–nehmen, im Sinne von „Für–wahr–nehmen“: Wenn sie das Altbekannte suchen, dient Ihnen die Kunst als Selbstbestätigung eines Vorscheins. Falls Sie sich auf unbekanntes Glatteis wagen, dann können Sie auch tiefer in die erkennende Ein--Sicht ins Werk einsteigen. ‚Nichts ist wie es scheint‘ kann als Aufforderung verstanden werden, den Vorhang des schönen Scheins beiseite zu ziehen und den Blick zu öffnen für das Neue und Befremdliche. Um dies anzustoßen, ist in den letzten hundert Jahren die Kunst oftmals gegen den Strich gebürstet worden, denken Sie z.B. an Baselitz, der seine Bilder auf den Kopf stellte. Tatsächlich entwickelt sich die Wirkung von Baumgärtels Kunst vor allem aus der psychologischen Inanspruchnahme des Betrachters, aus dem Spiel mit seinen Assoziationen, Sehnsüchten, Wunschvorstellungen, aber auch seinen Nöten und seinem Unbehagen. Wenn Sie also die Werke von Thomas Baumgärtel näher betrachten, versuchen Sie einmal dem Drang zu widerstehen, nur die schöne gelbe Frucht wahrzunehmen und damit die gängigen Klischees zu assoziieren. Lassen Sie sich einmal vom Spiel des Seins mit dem Schein überraschen, denn die hier ausgestellte Spraydose z. B. ist nicht, was sie scheint, ebenso wenig die Kabeltrommel. Sie ist es und ist es doch nicht, und sie ist weitaus mehr und zugleich immer auch etwas anderes, je nach Betrachterstandpunkt. Wie bei Claes Oldenburgs monumentaler, ausgedrückter Farbtube wird hier das Werkzeug – die Spraydose – zum Kunstobjekt und zugleich zum Bildgrund einer gesamten Grammatik von Spraygrammen. Die Spraydose ist Zeichen und Bezeichnetes in einem, d.h. die Wand der vermeintlichen Dose ist zwar mit dem Schriftzug „Bananensprayer“ bezeichnet, benennt aber nicht den Inhalt, denn die Dose ist allenfalls ein Attribut des Bananensprayers und steht - pars pro toto - für den Künstler selbst. Man kann hier von einer Art Stellvertreter des Spray-Künstlers, vielleicht auch – im weitesten Sinne – von einem Selbstbildnis sprechen. Wenn Sie auf das hier ausgestellte Objekt „München“ blicken, können sie sich einer Sinnestäuschung hingeben, indem Sie wie durch die Lamellen eines Rollos auf die Kirche blicken. Nichts, was Sie da sehen, ist allerdings eindeutig, alles bleibt vielgestaltig: da ist einerseits die Ansicht der Kirche und andererseits eine aus rohen Brettern zusammengezimmerte Holzpalette, die den Malgrund für dieses Gemälde bildet. Baumgärtels Kunst erzeugt also Illusion und Desillusion in einem. Vielleicht lassen Sie sich auch durch eine muslimisch verschleierte Maria irritieren, wenn nicht sogar provozieren. Baumgärtels Intervention in die traditionelle christliche Ikonographie spricht die Parameter unserer westlichen Bildkultur an. Thomas Baumgärtel dekonstruiert das christliche Bild und seine mimetische Wahrheit und verweist darauf, dass unser Vertrauen in das ‚wahre‘ Bild längst verloren ist. Tatsächlich wurde der westliche Glaube an die Wahrheit des Bildes schon früh erschüttert, man muss dabei nicht einmal an den ideologischen Missbrauch totalitärer Regime und ihrer retuschierenden Manipulation von Fotografien denken, um sich zu fragen, wann behaupten ein Bild die Wahrheit, wann lügt es uns an? Wie brisant dieses Thema ist und wie sehr das Bild in seiner Stellvertreterfunktion bis heute Auslöser für Terror und Glaubenskrieg werden kann, zeigen die jüngsten Ereignisse. Das Bedürfnis des Künstlers nach Gestaltung zeigt sich am unmittelbarsten in seiner Objektkunst. Damit steht er in einer langen, von Dada eröffneten und von der Popart weitergeführten Traditionslinie. Seine Referenzfigur ist Marcel Duchamp. Als dieser zu Beginn des Jahres 1914 in einem Pariser Kaufhaus einen Flaschentrockner aus Eisen erwarb und den alltäglichen Gebrauchsgegenstand kurzerhand zum Kunstwerk erklärte, leitete er eine neue Phase künstlerischen Sehens ein. Der Schock, den die Einführung eines vorgefundenen Objekts, genannt „objet trouvé“, auslöste, bildete den Auftakt zur intensiven Beschäftigung von Künstlern mit kunstfremden Realobjekten. Erstes „objet trouvé“ von Thomas Baumgärtel war die Bananenschale oder genauer die Schale und das Kreuz und löste ebenfalls den Protest der kirchlichen Institution aus. Die Bananenschale aber wandelt sich bei Thomas Baumgärtel umgekehrt zum gängigen, von der Literatur und Kunst beschriebenen Prozess, nämlich von einem pflanzlichen in einen menschlichen, objekt- oder zeichenhaften Körper. Vertraute Objekte aus seinem Lebensraum wie Bänke, Farbeimer, Kisten, Koffer oder Kabeltrommeln, Leitern oder der orangefarbene Verkehrskegel – alle diese Fundstücke reiht Thomas Baumgärtel in seinen Kunstkosmos ein. Nicht wie Marcel Duchamp erklärt er das ungestaltete Ready Made einfach zum Kunstwerk, sondern er löst es durch Gestaltung mittels Piktogrammen, Übersprühungen oder auch Veredelungen aus seinem normalen Funktionszusammenhang heraus und überführt es in einen neuen Sinnzusammenhang. Man kann auch sagen, der Künstler überschreitet die Grenzen seiner Leinwand, greift sprayend in den Raum ein, sprengt sogar die Grenzen seines Ateliers, um sich im Außenraum neue, nahezu grenzenlose Malgründe zu suchen, denken Sie an seine riesigen Wandmalereien auf Brücken und Fabrikhallen.
In der Ulmer Ausstellung wird die Herausbildung einer universellen Bildsprache, in der die Banane oder auch das Bananenkreuz sowohl Zeichen als auch Bezeichnendes ist, an Hand von dreidimensionalen Objekten und Assemblagen in der Malerei oder der Spraykunst veranschaulicht. Mit der Banane, die im Graffiti auf wenige Umrisse kongenial verkürzt ist, entsteht durch das Negativ der Schablone das Positiv eines Pattern, d.h. eines Musters, einsetzbar für alle Gattungen der Malerei, bis hin zur Satire auf das „Hakenkreuz“. Aus gesprühten Minibananen werden ebenso Geschichtsbilder als auch weibliche Aktbilder, ebenso Veduten von Köln, als auch Bildnisse oder Landschaften. Dies wiederum wurde in den sogenannten Stielbildern konsequent fortgesetzt. Hier kommt es in der Reduktion auf den Stiel der Banane zu einer Verdichtung, diese Werkphase hat der Künstler Bananen-Pointilismus getauft. Diese rasterpunktartige Vereinfachung auf die vier gesprühten Grundfarben stellt den bislang konsequentesten Abstraktionsprozess in Baumgärtels Opus dar.
Der grauen Periode, die erst vor einigen Jahren einsetzte, verdanken wir großartige Köln-Veduten voller Ruhe und erhabener Schönheit, Momentaufnahmen, Erinnerungsbilder an die Kindheit und Familie. Die grisailleartige Malerei, teils auch im Sepia-Ton, ist außerdem beredtes Zeugnis für eine ganz andere Art der Verwendung von Pattern oder besser Mustern, denn viele dieser Bilder drehen sich um das ambivalente Thema der Mobilisierung der Massen. In einem randlosen, all-Over bilden gleichgeschaltete Menschenkörper ein scheinbar dekoratives Muster, das beim genaueren Hinsehen beispielsweise die Hitler-hörige Masse beim „Führergruß“ wiedergibt. Zeitweise schien es fast so, als würden diese eindrücklichen grauen Großformate die Banane verdrängen. Aber weit gefehlt, die Banane erweist sich als unverwüstlich und schleicht sich immer wieder selbst in die grauen Bilder ein. Auch die letzten Jahre haben gezeigt, dass die Banane im Werk von Thomas Baumgärtel weiterhin der geheime Code für alles Lebendige und Wandelbare bleibt. Allen neuen Ideen zum Trotz steht die Banane für Kreativität als Grundprinzip des lebendigen Seins, eben für das kreative Prinzip schlechthin. Am Anfang des künstlerischen Werdegangs von Thomas Baumgärtel standen die Aktion und das Objekt, bis heute sind diese die wesentlichen Referenzgrößen seines künstlerischen Schaffens geblieben. Schon damals ging es um Aktionskunst im besten, eben im Beuysschen Sinne, nämlich um den Versuch, die Grenzen zwischen Kunst und Leben zu überbrücken, ja sogar aufzuheben. Kunst in den öffentlichen Raum zu tragen, Fassaden von öffentlichen und privaten Häusern, von Brücken oder Türmen, von Außenhäute der Galerien und Museen zu Bildträgern seiner Kunst zu machen. Sich aber auch dem öffentlichen Dialog mit Passanten, Galeristen, der Staatsgewalt oder den Vertretern der öffentlichen Hand zu stellen, das macht ein wichtiges Merkmal seines Kunstschaffens aus. Auch wenn viele seiner rebellischen Aktionen frech, spitzbübisch, subversiv oder auch karnevalesk in Erscheinung treten, darf man den ernsten Kern seines künstlerischen Kredos nicht verkennen: Bei all‘ dem geht es Thomas Baumgärtel in erster Linie um die Freiheit des Menschen und die Freiheit der Kunst.
Dr. Bettina Baumgärtel, Leiterin Gemäldegalerie, Museum Kunstpalast, Düsseldorf